BRÜSSEL/BERLIN/LONDON (dpa-AFX) - Die Pharmaindustrie bangt wegen der schleppenden Verhandlungen für den Brexit. Der Sektor gehört zu den am stärksten regulierten Branchen Europas. Viele Vorgaben sind eng miteinander verzahnt. Seit Monaten schrillen deshalb die Alarmglocken. Was, wenn Großbritannien ohne klare Nachfolgeregelungen für die medizinische Industrie aus der EU ausschert? Die Pharmaunternehmen bereiten sich bereits auf diesen Extremfall vor. Die wichtigsten Punkte zum Thema, was die Experten sagen und wie es für die Aktien läuft:

DAS IST LOS:

45 Millionen Arzneimittelpackungen wandern laut einer Umfrage des europäischen Pharmaverbands EFPIA jedes Jahr vom Vereinigten Königreich in die EU. 37 Millionen importieren die Briten im Gegenzug aus den übrigen EU-Ländern. Niemand weiß derzeit, wie dieser Strom ungehindert weiter fließen soll. Denn das Problem des Brexit umfasst die komplette Kette von der Pharmaforschung über die Zulassung bis zum Vertrieb. Die Pharmaindustrie hofft deshalb, dass sich die Politik auf neue Regularien einigt, durch die das alte System nur wenig erschüttert wird.

Entscheidet sich Großbritannien jedoch für den harten Schnitt ohne Nachfolgeregelungen, hätte das immense Folgen für die Branche. Der britische Arzneimittelhersteller GlaxoSmithKline hat als erstes Unternehmen bereits in seinem Geschäftsbericht 2017 vorgerechnet, was dies für seine Bilanz bedeuten würde. Für die kommenden drei Jahre prophezeit der Konzern einen Aufwand für die Brexit-Vorbereitung von 70 Millionen Pfund, umgerechnet rund 80 Millionen Euro. Danach stellt sich das Unternehmen auf 50 Millionen Pfund ein - jährlich.

Ungelöste Fragen gibt es massig. Übel träfe es besonders Impfstoffe von der britischen Insel. Ihre komplexe Zusammensetzung müsste in Laboren der EU neu überprüft werden, ein enorm aufwändiger und kostspieliger Prozess. Und von britischen Institutionen oder Konzernen finanzierte Medikamenten-Studien dürften künftig nur dann in der EU durchgeführt werden, wenn der Sponsor seinen Sitz in eines der 27 verbleibenden Mitgliedsländer verlegt - oder die Rechte auf ein EU-Büro überträgt.

Natürlich trifft der Brexit sämtliche Zweige der Wirtschaft. Doch weil die Pharmaindustrie mit ihrer Bedeutung für die menschliche Gesundheit wuchern kann, hatte sie gehofft, dass ihrem Anliegen von der Politik oberste Priorität bei den Brexit-Verhandlungen eingeräumt wird. Bislang vergeblich.

Allerdings ist Theresa May bereits mit hohen Forderungen angeeckt. Die britische Regierungschefin wollte Großbritannien auch in Zukunft unter dem Dach der für die Medikamentenzulassung zuständigen europäischen Behörde Ema belassen, die künftig von London nach Amsterdam übersiedelt. "Rosinenpickerei", befanden die übrigen Europäer. Seitdem erscheinen die Gespräche über die künftige Pharmawelt in Europa so bewegungslos wie der Brexit-Prozess selbst.

"Alles ist völlig ungeklärt, und von britischer Seite kommt nichts", stellt Siegfried Throm fest, für den Bereich Forschung zuständiger Geschäftsführer beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) in Berlin. Auch im britischen Parlament beschwor erst kürzlich der zuständige Ausschuss die Regierung, sich endlich für Nachfolgerelungen stark zu machen, da sonst der Verlust des Marktzugangs zur EU und immens steigende Medizinkosten für die Briten drohten.

Beim Pharmaverband EFPIA in Brüssel gibt man die Hoffnung noch nicht auf. Gleichzeitig empfehlen sämtliche Pharmaverbände in Europa ihren Mitgliedern inzwischen, sich auf einen harten Schnitt einzustellen.

Tatsächlich hat der Abnabelungsprozess längst begonnen. Die Pharmakonzerne, lange in Wartestellung, bewegen sich. Damit ihre Produkte auch nach dem Brexit verkehrsfähig bleiben, werden derzeit zuhauf jene Zulassungsrechte für Medikamente nach Kontinentaleuropa verlagert, die bisher von britischen Gesellschaften verwaltet wurden.

Künftig verliert die englische Zulassungsbehörde wesentliche Aufgaben. Sie muss ihre Funktion als sogenannter Berichterstatter für mehr als 370 der knapp 1400 bereits zentral über die Ema zugelassenen Medikamente für Mensch und Tier an die Behörden anderer Länder abgeben. Auch diese wurden bereits bestellt und übernehmen ihre neue Aufgabe nach Ende März 2019, dem offiziellen Zeitpunkt des EU-Austritts der Briten.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Aus Sicht von Analyst Bernhard Weininger von Independent Research setzen Politik und die Branche derzeit auf Verhandlungstaktik. "Ich gehe davon aus, dass auf beiden Seiten ein Interesse daran besteht, eine Übergangsfrist auszuhandeln, in der sich die Konzerne vorbereiten können", sagt der Experte.

Weininger sieht drei grundlegende Probleme des Brexit: Was machen die Briten, wenn sie künftig nicht mehr auf einen großen Pool an Fachkräften wie bisher zugreifen können? Und verlieren britische Pharma-Firmen an Innovationskraft, wenn sie auf die hohen Forschungsgelder aus der EU verzichten müssen? Zudem dürfte eine Medikamenten-Zulassung in UK für viele Hersteller künftig weniger Gewicht haben, "wenn man mit einer EU-Zulassung den größeren Markt adressieren kann", gibt der Experte zu bedenken. Umgekehrt dürften britische Hersteller wohl nicht umhin kommen, zweigleisig zu fahren und Zulassungen in EU und UK zu beantragen. "Dies führt dann zu zusätzlichem finanziellen und bürokratischem Mehraufwand."

Solche Fragen dürften auch an der Börse bereits unterschwellig eine Rolle spielen. "Die Unsicherheit der Investoren ist bei britischen Werten sicherlich höher als bei den übrigen, denn für die Hersteller aus Großbritannien dürfte der Schnitt schwieriger werden", so Weininger.

DAS MACHEN DIE AKTIEN:

Am 24. Juni 2016 sorgte das Votum der Briten für den Austritt aus der EU für eine Schockwelle an den internationalen Handelsplätzen. Auch der Sammelindex der europäischen Pharmabranche brach an diesem Tag kräftig ein. Seitdem hat sich der Stoxx Europe 600 Health Care zwar wieder vom Brexit-Hieb erholt, brachte aber reichlich Aufs und Abs hinter sich. Aktuell ist die bisherige Jahresbilanz leicht negativ - damit liegen Pharmapapiere aber in etwa gleichauf mit dem Gesamtmarkt./tav/stw/fba