(Aktualisierung: Mit Aussagen Verkehrsministerium im 6. Absatz.)

BERLIN (dpa-AFX) - Rund 12 500 Einwohner hat Brunsbüttel im Westen von Schleswig-Holstein. Die Hafenstadt an der Elbe ist ein wichtiger Industriestandort vor allem für die Chemiebranche. Unter anderem der Kunststoffhersteller Covestro hat hier ein Werk. Es gibt Pläne für ein neues Terminal für Flüssiggas. Nur einen Bahnhof für Pendler und Besucher hat Brunsbüttel nicht. 1988 wurde die 14 Kilometer lange Verbindung in den Nachbarort Wilster eingestellt. Seither fahren dort nur noch Güterzüge. Fahrgäste müssen mit dem Bus an- und abreisen.

Geht es nach dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene, dann sollen solche Nebenstrecken möglichst bald wieder ans Netz gehen. In ganz Deutschland haben sie fast 240 Verbindungen für den Personen- und für den Güterverkehr identifiziert, die irgendwann stillgelegt wurden, nun aber wieder reaktiviert werden könnten. Mehr als 50 davon sind in den vergangenen zwölf Monaten hinzugekommen. Den aktualisierten Plan stellten die beiden Verbände am Donnerstag in Berlin vor.

Über die Reaktivierung all dieser Nebenstrecken, so sind sie überzeugt, könnten insgesamt mehr als drei Millionen Menschen wieder einen direkten Zugang zum Eisenbahnnetz erhalten. Mehr als 4000 Kilometer Schiene würden hinzukommen. "Alle Projekte, bei denen der Schienenverkehr in den vergangenen Jahren reaktiviert wurde, sind positiv verlaufen", sagte Jörgen Boße, VDV-Experte für Schieneninfrastruktur. Vorhersagen für die Auslastung seien häufig noch übertroffen worden. Aus Sicht der Verbände ist die Reaktivierung der Strecken notwendig, um in Zukunft einen klimafreundlicheren Verkehr zu ermöglichen.

Schließlich wollen der Bund und die Bahnindustrie in den kommenden zehn Jahren die Zahl der Fahrgäste auf der Schiene verdoppeln. Gleichzeitig soll der Eisenbahn-Anteil am Güterverkehr von derzeit 19 auf dann 25 Prozent wachsen. Der sogenannte Deutschlandtakt gilt als wichtigstes Instrument, um dieses Ziel zu erreichen. Er sieht eine dichtere Taktung auf den Stammstrecken zwischen den großen Städten vor. Vor allem aber soll er eine bessere und lückenlosere Anbindung der ländlichen Räume gewährleisten.

"Um diesen Deutschlandtakt realisieren zu können, müssen wir auch Strecken reaktivieren", sagte Dirk Flege, Geschäftsführer des Interessenverbands Allianz pro Schiene, am Donnerstag. "Etliche Strecken, die wir vorschlagen, sind auch im Zielfahrplan des Deutschlandtaktes hinterlegt."

Das Bundesverkehrsministerium teilte mit, die Reaktivierung stillgelegter Strecken sei für das Ressort ein wichtiges Anliegen. Dies könne dem Regionalverkehr Impulse geben und zudem Engpässe in anderen Teilen des Netzes ausgleichen. Die Entscheidung für eine Reaktivierung von Schienenstrecken im Nahverkehr liege in der Zuständigkeit der Länder beziehungsweise der für den Schienenpersonennahverkehr zuständigen Aufgabenträger - für Investitionen stünden verschiedene Finanzierungsquellen des Bundes zur Verfügung.

Klar ist: Angesichts stetig wachsender Fahrgastzahlen ist die aktuelle Schieneninfrastruktur längst an der Belastungsgrenze angekommen. Zu häufig kommen sich Güter- und Personenverkehr in die Quere. Verspätungen, unzufriedene Kunden und ein kaum wachsender Anteil des Schienengüterverkehrs sind die Folge.

In den vergangenen Jahrzehnten ist das Schienennetz um Tausende Kilometer zurückgebaut worden. Erst in den vergangenen Jahren wurde dieser Trend gestoppt. 2019 betrug die Gesamtlänge des genutzten Schienennetzes in Deutschland Daten der Allianz pro Schiene zufolge 33 291 Kilometer - und damit in etwa so viel wie in den drei Jahren zuvor. "Daran haben auch die Reaktivierungen stillgelegter Strecken einen wichtigen Anteil", ist Flege überzeugt.

Es zeige sich, dass manche Streckenstilllegung in der Vergangenheit ein schwerer Fehler gewesen sei, sagt auch der Grünen-Verkehrspolitiker Matthias Gastel. "Jetzt wäre es für viele Regionen eine Chance, wieder an die Bahn angebunden zu werden. Mit Streckenreaktivierungen kommt die Bahn wieder in die Fläche." Die Bundesregierung müsse endlich die Planungsprozesse beim Schienenverkehr beschleunigen.

In den vergangenen zwölf Monaten wurden rund 106 Kilometer Schiene reaktiviert, ein Großteil davon für den Personenverkehr. Vor allem kleinere Städte und Regionen wurden auf diese Weise wieder ans Schienennetz angeschlossen. So ging in Baden-Württemberg etwa die Strecke zwischen der Gemeinde Engstingen (Landkreis Reutlingen) und Gammertingen (Landkreis Sigmaringen) wieder ans Netz. Auch in Niedersachsen, Bayern und Nordrhein-Westfalen wurden Güter- und Personenverkehrsstrecken wieder in Betrieb genommen.

Die Deutsche Bahn schaue sich die Vorschläge der beiden Verbände seit jeher genau an und sei gerade dabei, einen eigenen Gesamtplan für die Reaktivierung von Nebenstrecken zu erstellen, sagte eine Sprecherin des bundeseigenen Konzerns. Dieser soll in den kommenden Wochen vorliegen. Und auch der Bund hat das Thema aufgegriffen: Seit einiger Zeit fördert er Reaktivierungsprojekte mit eigenen Mitteln. Nur für den Güterverkehr gebe es eine solche Förderung bislang nicht, kritisiert Flege.

Zudem seien jetzt die Kommunen gefragt: Sie müssten die vorgeschlagenen Strecken nun vor allem auf ihren volkswirtschaftlichen Nutzen überprüfen und dann schnellstens aktiv werden./maa/hoe/DP/men