FRANKFURT (dpa-AFX) - Gerade noch stöhnen die deutschen Amtsrichter unter der Last von mehr als 100 000 neuen Verfahren um verspätete oder ausgefallene Flüge, da kündigt sich bereits die nächste Streitwelle an. Die Absage mehrerer tausend Europaflüge wegen der Coronavirus-Krise wirft die Frage auf, ob die Inhaber bereits gebuchter Tickets nun Entschädigungsansprüche nach der EU-Fluggastrichtlinie 261 anmelden können. Während sich die Airlines auf außergewöhnliche Umstände berufen, die sie von Entschädigungen entbänden, sehen Internet-Fluggastportale gute Chancen auf Entschädigungen von 250 bis 600 Euro.

"Es wird sicherlich zu vermehrten Streitigkeiten kommen, ob aufgrund des Coronavirus annullierte Flüge einen berechtigten Anspruch auf Ausgleichszahlung darstellen", sagt Heinz Klewe, Geschäftsführer der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) in Berlin. Seine Einrichtung soll Prozesse vermeiden und zu Kompromissen zwischen Kunden und Unternehmen führen. Die Schlichtungsempfehlungen zu Flugreisen wurden 2019 zu 88 Prozent von beiden Seiten angenommen.

Grundsätzlich steht den Konsumenten außer der Schlichtung die individuelle Klage mit einem eigenen Rechtsanwalt offen oder die Kooperation mit einem der zahlreichen Internetportale, die gegen üppige Erfolgshonorare den juristischen Kleinkrieg mit den Fluggesellschaften übernehmen.

Lufthansa, Ryanair und Co. hätten ihre Europaflüge allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen zusammengestrichen, argumentiert beispielsweise Lars Watermann vom Portal EUflight, das Passagieren bereits ihre Forderungen aus den Corona-Absagen abkauft. Es habe keine behördlichen Verbote gegeben, wegen der Virusausbreitung etwa Flüge im deutschen Inland oder nach Italien zu unternehmen. "Wenn ein nicht ausgelasteter Flug aus betriebswirtschaftlichen Gründen annulliert wird, liegt hierin kein außergewöhnlicher Umstand, der die Fluggesellschaft von einer Entschädigungszahlung befreit." Das unternehmerische Risiko der Auslastung müsse allein die Fluggesellschaft tragen.

Die deutsche Flugbranche hat über den Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) die Gegenposition eingenommen. Die Einschnitte in die Flugpläne seien letztlich auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen, weil die Fluggesellschaften nur auf die Ausbreitung des Virus reagiert hätten. "Leere Flugzeuge zu fliegen, wäre wirtschaftlich unverantwortbar und ökologisch völlig schädlich", hatte der Verband dann noch erklärt.

Statt einer Entschädigung nach der EU-Verordnung sollten die Kunden den Ticketpreis erstattet bekommen oder kostenlos umbuchen können, so der BDL. Das ist auch die Position der Lufthansa, die etwaige Entschädigungsforderungen nach der EU-Verordnung nicht akzeptieren würde, wie ein Sprecher in Frankfurt erklärte. Mit einer am Freitag verkündeten Lockerung der Umbuchungsbedingungen bei allen Konzerngesellschaften kommt der Konzern den Kunden entgegen. Watermann allerdings warnt: Wer selbst storniert oder umbucht, erhält auf keinen Fall eine Entschädigung.

Entscheidend für die Frage nach einem Anspruch sind der Verordnung zufolge auch bestimmte Fristen sowie die Qualität der angebotenen Ersatzverbindungen. Storniert die Fluggesellschaft ein Ticket mindestens 14 Tage vor dem geplanten Flug, ist keine Entschädigung fällig. Bei kürzerer Vorwarnzeit gelten bestimmte Abweichungen von den ursprünglichen Flugzeiten noch als akzeptabel.

Klarer sei die Lage bei Flügen nach Israel, sagt der Reiserechtler Ronald Schmid, der auch für das Portal Fairplane spricht. Das vom Staat verhängte Einreiseverbot für Europäer sei ein typischer externer Grund, den die Fluggesellschaften nicht zu vertreten hätten und in der Folge auch nicht entschädigen müssten. Bei den viel zahlreicheren Europaflügen müsse man sich hingegen den jeweiligen Einzelfall anschauen. Den Gerichten wird die Arbeit an Bagatellfällen um Flugentschädigungen also nicht ausgehen. Watermann weist allerdings den Airlines die Schuld an der Verfahrensflut zu: In rund 4000 Verfahren gegen EUflight seien sie zu 97 Prozent unterlegen.

Die EU-Kommission will generell die Entschädigungsregeln lockern, so dass die Airlines erst bei Verspätungen von mehr als fünf Stunden zahlen müssten. Der Chef der Verbraucherzentrale Bundesverband, Klaus Müller, sieht das kritisch. Für die Fluggesellschaften würde ein wichtiger Pünktlichkeitsanreiz wegfallen. Müller fordert die Bundesregierung auf, den Plänen nicht zuzustimmen./ceb/DP/jha