CHICAGO (dpa-AFX) - Größter Flugzeugbauer der Welt - diesen Titel dürfte Boeing in diesem Jahr wohl an seinen ewigen Rivalen Airbus verlieren. Nach zwei tödlichen Abstürzen und dem Flugverbot für seinen meistbestellten Flugzeugtyp 737 Max steckt der US-Konzern in einer schweren Krise. Hat der Hersteller bei der Entwicklung des Jets Geldgier vor Sicherheit gestellt? Was bei Boeing los ist, was Analysten sagen und was die Aktie macht.

DAS IST LOS BEI BOEING:

Der US-Konzern steckt in der vielleicht schwierigsten Lage seiner Geschichte. Seine wichtigste Gewinnhoffnung, der modernisierte Mittelstreckenjet 737 Max, darf nach zwei tödlichen Abstürzen mit insgesamt 346 Toten nicht mehr starten. Ein Ende des Flugverbots, das Behörden in aller Welt Mitte März verhängten, ist noch nicht absehbar. Boeing hat die Produktion des Modells gedrosselt, die Auslieferungen sind gestoppt.

Unterdessen steht eine Freigabe der Steuerungssoftware MCAS, die für die Unglücke mitverantwortlich sein soll, weiterhin aus. Weitere Probleme könnten die Wiederzulassung noch länger verzögern. Sollte das Verbot noch in das Jahr 2020 hinein gelten, könnte Boeing die Produktion ganz stoppen, räumte Konzernchef Dennis Muilenburg im Juli ein.

Eigentlich sollte die 737 Max absehbar für rund zwei Drittel aller pro Jahr ausgelieferten Boeing-Jets stehen und den Konzern gegen den Erfolg des Konkurrenzmodells A320neo vom Rivalen Airbus wappnen. Der europäische Flugzeugbauer hatte seinen Konkurrenten aus den USA Anfang des Jahrzehnts mit der Neuauflage seines Verkaufsschlagers A320 vor sich hergetrieben. Boeing sah sich gezwungen, seine seit den 1960er Jahren in verschiedenen Modellgenerationen gebaute 737 mit moderneren Triebwerken auf Spritsparen zu trimmen.

Wegen der niedrig hängenden Tragflächen musste Boeing die neuen, noch größeren Turbinen weit vorn montieren. Die MCAS-Software sollte das veränderte Flugverhalten ausgleichen. Doch nun wird das System dafür verantwortlich gemacht, dass zwei Jets jeweils kurz nach dem Start in den Sinkflug gingen und abstürzten. Boeing wird verdächtigt, den Jet übereilt auf den Markt gebracht und die Sicherheit vernachlässigt zu haben. Der Konzern bestreitet dies zwar, hat aber Pannen eingeräumt.

Der Ruf des Konzerns ist beschädigt, der Name "Max" verbrannt. Inzwischen denkt selbst Boeing über eine Umbenennung des Fliegers nach. Die meisten Kunden unter den Airlines halten trotz der Vertrauenskrise bisher an ihren Bestellungen fest - auch weil der einzige Konkurrent Airbus auf Jahre ausgebucht ist. Die British-Airways-Mutter IAG stellte sogar eine Riesenbestellung über 200 Max-Jets in Aussicht.

Der Schaden für Boeing geht schon jetzt in die Milliarden. Allein im zweiten Quartal verbuchte der Konzern wegen der "Max" eine Belastung von 4,9 Milliarden US-Dollar (4,4 Mrd Euro) nach Steuern. Airlines verhandeln mit Boeing über einen Ausgleich für ihre finanziellen Schäden. Die US-Fluggesellschaft American Airlines spricht von einer Belastung von 400 Millionen Dollar für das laufende Jahr, weil sie die neuen Jets nicht bekommt oder nicht einsetzen kann. Der Reisekonzern Tui hat seinen Mehraufwand auf 300 Millionen Euro beziffert.

Boeing-Chef Muilenburg hofft, dass die Behörden - allen voran die US-Luftfahrtaufsicht FAA - die Freigabe für die "Max" noch im vierten Quartal erteilen. Doch sicher ist das nicht. Die Boeing-Führung hat ihre Jahresziele für Umsatz und Gewinn längst gestrichen und wagt keine neuen Prognosen. Im vergangenen Jahr hatte der Flugzeugbauer unter dem Strich rund 10,5 Milliarden Dollar verdient. Für das erste Halbjahr 2019 stand nun bereits ein Verlust von fast 800 Millionen Dollar zu Buche.

Das frühere Ziel des Vorstands, Boeings Position als weltgrößter Flugzeugbauer vor Airbus zu verteidigen, scheint damit passé. Ursprünglich wollten die Amerikaner in diesem Jahr rund 900 Passagier- und Frachtjets ausliefern - ein Ziel, das sie längst gestrichen haben. Airbus peilt bislang 880 bis 890 Maschinen an und könnte leicht an Boeing vorbeiziehen.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Branchenexperte Robert Czerwensky von der DZ Bank will sich von dem "Zweckoptimismus" der Boeing-Spitze nicht anstecken lassen. "Die derzeitige Prognose des Vorstandes, dass das Flugverbot bereits Anfang des vierten Quartals aufgehoben werden könnte, halten wir für zu optimistisch, da es weiterhin viele Fragen zu den Absturzursachen der beiden 737 Max gibt", schrieb er in einer jüngsten Studie. Er erwartet, dass die Jets erst 2020 wieder starten dürfen. Daher sei eine weitere Gewinnwarnung von Boeing noch vor den Zahlen für das dritte Quartal wahrscheinlich. Und die Aktie? Sollte man lieber abstoßen, rät Czerwensky.

Sein Kollege Robert Spingarn von der Schweizer Großbank Credit Suisse hält die Unsicherheit rund um das Flugverbot für noch größer. "Wir sind weiterhin der Ansicht, dass man den Ausgang der Angelegenheit und den Zeitpunkt naturgemäß nicht wissen kann." Je nachdem, welche Neuigkeiten in der kommenden Zeit noch auftauchten, dürfte der Kurs der Boeing-Aktie weiter schwanken.

Spingarn hat es daher aufgegeben, kurzfristige Vorhersagen über die weitere Entwicklung zu treffen. Er versucht über die Krise hinauszublicken - wenn die "Max"-Probleme gelöst sind, die Flieger in der Luft und die Produktion bei Boeing wieder ein ganzes Kalenderjahr lang normal läuft. Das allerdings dürfte seiner Ansicht nach lange dauern - bis ins Jahr 2022. Der Experte schreibt der Aktie vor dem Hintergrund ein Kursziel von 425 Dollar zu und rät auf dem jetzigen Kursniveau zum Kauf des Papiers. Allerdings sei dies etwas für langfristig orientierte Anleger, die zwischenzeitliche Risiken und Kursschwankungen aushalten können.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Angesichts der Katastrophen ist die Boeing-Aktie an der Börse bisher fast glimpflich davongekommen. Trotz des seit Mitte März geltenden Flugverbots war das Papier zuletzt immerhin noch ein paar Prozent mehr wert als zum Jahreswechsel. Wer die Aktie vor drei Jahren gekauft hat, kann sich sogar über einen Kursgewinn von gut 150 Prozent freuen.

Doch der Höhenflug, mit dem die Boeing-Aktie lange den US-Börsenindex Dow Jones Industrial angetrieben hatte, ist längst zu Ende. Anfang März hatte das Papier mit 446,01 Dollar ein Rekordhoch erreicht. Seither ging es kräftig abwärts. Wer beim Rekordhoch eingestiegen war, hat inzwischen mehr als ein Fünftel seines Einsatzes verloren. Mit dem Risiko, dass das Flugverbot für die "Max" womöglich bis 2020 dauern und Boeing die Produktion des Jets stoppen muss, bleibt die Investition in die Aktie denn auch ein ungewisses Unterfangen./stw/kro/fba