ESSEN (dpa-AFX) - Wie geht es weiter mit dem in Not geratenen Traditionskonzern Thyssenkrupp? Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise lassen die Verluste der Essener anschwellen. Mit dem Verkauf der Aufzugsparte ist der Konzern seinen größten Gewinnbringer los. Und das Management um Chefin Martina Merz muss entscheiden, was Thyssenkrupp in Zukunft sein will. Die Handlungsspielräume sind aber begrenzt. Was bei Thyssenkrupp los ist, was Analysten sagen und was die Aktie macht.

LAGE BEI THYSSENKRUPP:

Es ist vollbracht: Ende Juli schloss der Stahlkonzern den Verkauf seiner Aufzugsparte für gut 17 Milliarden Euro an Finanzinvestoren ab. Finanziell hat sich der chronisch klamme Konzern damit Luft verschafft, die Einnahmen senken die Schulden deutlich und das Eigenkapital wächst. Mit dem Verkauf verliert Thyssenkrupp aber zugleich sein wertvollstes Geschäft und derzeit einzigen nennenswerten Gewinnbringer sowie mehr als 50 000 Mitarbeiter.

Die Einnahmen aus dem Verkauf sollten eigentlich zum großen Befreiungsschlag werden. Aus dem Milliardenzufluss will Merz neben Schulden senken und Pensionslasten absichern vor allem den Konzernumbau finanzieren. Die Corona-Krise macht den Essenern jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Pandemie werde den Spielraum deutlich einschränken, hatte Merz bei der Vorlage der Halbjahreszahlen einräumen müssen.

Denn: Thyssenkrupp ächzt unter hohen Verlusten. So häufte der Konzern im ersten Halbjahr des Geschäftsjahres 2019/20 (per Ende März) einen Fehlbetrag von 1,3 Milliarden Euro an. Die Verschuldung stieg erheblich. Da die Nachfrage ausblieb, fuhr der Konzern Werke herunter oder schloss sie zeitweise ganz. Das Management schickte mehr als 30 000 Mitarbeiter weltweit in Kurzarbeit.

Für das zweite Halbjahr ist keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil: Thyssenkrupp dürfte noch mehr Geld verbrennen. Im bis Ende Juni laufenden dritten Quartal hielt Finanzvorstand Klaus Keysberg im Mai einen Verlust im hohen dreistelligen Millionen-Euro-Bereich für "wahrscheinlich" und schloss ein Minus bis zu gut einer Milliarde Euro nicht aus. Thyssenkrupp will an diesem Donnerstag (13.8.) über die Zahlen berichten.

Hat Thyssenkrupp schon im Tagesgeschäft genügend Brandherde zu löschen, steht der Konzern nun vor der existenziellen Frage, in welcher Form er sich neu ausrichten soll. Wegen des steigenden wirtschaftlichen Drucks der Corona-Krise erwägt Thyssenkrupp nun einen zweiten Anlauf für eine Fusion. Mehrfach fiel in den vergangenen Wochen der Name der schwedischen SSAB als möglicher Interessent. Aber auch über einen zweiten Anlauf mit Tata Steel wird wieder spekuliert.

Wie Thyssenkrupp die Probleme im Stahl lösen will - ob mit einem Partner oder einem Komplettverlauf, ist völlig offen. Mitte Mai hatte Merz erklärt, dass es keine "Denkverbote" gebe. Gespräche mit Wettbewerbern gingen dabei "in alle Richtungen". Demzufolge kann sich die Managerin nicht nur selbst eine Übernahme von Konkurrenten oder eine Fusion vorstellen, sondern auch lediglich einen Minderheitsanteil am Stahlgeschäft. Aber auch die Fortführung ohne Partner bleibt eine Möglichkeit.

Ein Zusammengehen mit dem deutschen Konkurrenten Salzgitter erscheint allerdings wenig wahrscheinlich, zeigt dieser Thyssenkrupp doch derzeit eher die kalte Schulter. Dabei würde die IG Metall eine deutsche Lösung favorisieren - sei es mit Salzgitter oder Saarstahl.

Auch in den Industriegeschäften soll kaum ein Stein auf dem anderen bleiben. Hier hinkt Thyssenkrupp der Konkurrenz hinterher, die meisten Sparten haben nicht die kritische Größe, um wettbewerbsfähig zu sein. Die geplante Neuausrichtung würde den Konzern, der im vergangenen Geschäftsjahr auf einen Umsatz von rund 42 Milliarden Euro kam, noch weiter schrumpfen lassen. So will sich Thyssenkrupp von Bereichen mit einem Umsatz von insgesamt 6 Milliarden Euro trennen.

Dazu gehören neben dem Anlagenbau das italienische Edelstahlwerk, das Geschäft mit Antriebslösungen sowie Federn und Stabilisatoren - für diese Bereiche strebt Thyssenkrupp Partnerschaften oder einen Verkauf an. Für die Bereiche Infrastructure, Grobblech und Battery Solutions prüft der Konzern einen Verkauf oder die Schließung von Standorten. Die Segmente beschäftigen rund 20 000 Mitarbeiter und würden künftig separat geführt hieß es. Hier sehe Thyssenkrupp keine "nachhaltige Perspektive".

Auch für den Marineschiffbau sucht das Unternehmen nach einer Lösung. Aus Sicht von Thyssenkrupp kann der Marineschiffbau "in konsolidierter Aufstellung langfristig besser im nationalen wie internationalen Wettbewerb bestehen".

Damit hat Thyssenkrupp praktisch seine eigene Zerschlagung eingeleitet. Zum Kern der neuen Thyssenkrupp sollen weiterhin der Werkstoffhandel und die Industriekomponenten gehören. Hier sieht der Konzern eigenen Angaben zufolge ein gutes Entwicklungspotenzial, welches aus eigener Kraft gehoben werden soll. Das Automobilzuliefergeschäft soll zumindest teilweise in der Gruppe weitergeführt werden. Hier jedoch hält Merz ebenfalls Allianzen und Entwicklungspartnerschaften für notwendig.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Die Marktexperten sind über Thyssenkrupp gespalten. So lässt sich kein eindeutiges Votum der im dpa-AFX Analyser vertretenen Analysten bestimmen. Unter den jüngeren Studien finden sich nahezu eine gleichgroße Anzahl von Experten, die einen Kauf, einen Verkauf oder ein Halten der Aktie empfehlen. Einig sind sie sich darin, dass sich Thyssenkrupp neu ausrichten muss. Und dass der hohe Mittelabfluss weiter eines der wichtigsten Probleme des Konzerns ist, welches es zu lösen gilt.

Der Schrumpfungsprozess des Konzerns sei notwendig, schrieb Analyst Christian Obst von der Baader Bank. Barclays-Experte Lars Brorson sieht den Weg für eine Zerschlagung des Konzern frei. Die Pläne des Unternehmens zum Konzernumbau seien grundsätzlich positiv, so Sven Diermeier von Independent Research. Der Konzern werde dadurch deutlich kleiner, aber auch weniger komplex. Vorsichtig ist Ephrem Ravi von der Citigroup. Dem jüngsten Strategieupdate fehle es an klaren Zielen, Zeitrahmen und roten Linien für möglicherweise noch tiefgreifendere Maßnahmen.

Keine schnelle Lösung erwartet dabei Dirk Schlamp von der DZ Bank. Die Neuausrichtung dürfte mehrere Jahre in Anspruch nehmen, schätzt er. Eine gute Lösung für den angeschlagenen und zyklischen Stahlbereich könnte schwieriger zu finden sein als für den Marineschiffbau. Dabei hält Rochus Brauneiser von Kepler Chevreux einen Komplettverkauf des Stahlgeschäfts nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Und Holger Fechner von der NordLB findet, dass wegen der aktuellen konjunkturellen Unsicherheiten der eingeschlagene Weg noch steinig und erst mittelfristig von Erfolg gekrönt sein dürfte.

Für das Ende Juni ausgelaufene dritte Quartal erwarten die Marktexperten erneut hohe Verluste. So gehen die Analysten in einem von Thyssenkrupp zusammengestellten Konsens unter dem Strich im fortgeführten Geschäft von einem Verlust von rund 672 Millionen Euro aus. Beim operativen Ergebnis (Ebit) dürfte das Minus mit rund 741 Millionen Euro noch höher ausfallen. Der Verbrauch von Barmitteln der im Konzern verbleibenden Geschäftseinheiten sei das hauptsächliche Risiko, so Baader-Analyst Obst.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Der Blick auf den Chart des Thyssenkrupp-Papiers zeigt das Ausmaß der Misere und des Niedergangs in den vergangenen Jahren deutlich. Von Kursen über der Marke von mehr als 30 Euro Mitte 2011 ging es peu a peu nach unten. Die vielen Probleme des Konzerns drückten den Kurs bis zum August vergangenen Jahres in den einstelligen Bereich - und dann kam noch Corona.

Die Pandemie und die Sorgen über die Finanzlage des Unternehmens versetzten dem Papier einen weiteren Schlag - zeitweise kostete eine Thyssenkrupp-Aktie deutlich weniger als vier Euro. Davon konnte sich das Papier zunächst bis zur Vorlage der Halbjahreszahlen wieder auf mehr als sechs Euro erholen. Doch auch das war schnell verpufft. Sorgen über den hohen Finanzbedarf und weitere coronabedingten Rückschläge sowie die Quartalszahlen ließen diese Erholung schnell wieder platzen.

Seit Mai zieht das Papier hingegen wieder an und notiert vor der Veröffentlichung der Quartalszahlen wieder über der Marke von 7 Euro bei knapp 7,50 Euro. Damit kommt das Unternehmen auf eine Marktkapitalisierung von rund 4,6 Milliarden Euro./nas/mis/jha/