- von Jörn Poltz und Holger Hansen und Patricia Uhlig und Hans Seidenstücker

Der milliardenschwere Bilanzskandal bei Wirecard hat einen neuen Höhepunkt erreicht.

Ex-Chef Markus Braun verbrachte eine Nacht in Polizeigewahrsam, nachdem er sich selbst am Montagabend gestellt hatte. Gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro werde er aus der Untersuchungshaft entlassen, teilte die Staatsanwaltschaft München am Dienstag mit. Die Strafverfolger werfen dem 50-jährigen Österreicher Bilanzfälschung und Marktmanipulation vor. In der Bilanz des Zahlungsabwicklers sind 1,9 Milliarden Euro verschwunden. Die Gespräche mit Gläubigerbanken zur Rettung des Konzerns laufen weiterhin auf Hochtouren. Vize-Kanzler Olaf Scholz räumte Versäumnisse bei der Aufsicht über Wirecard ein.

Die Ermittler legen Braun zur Last, allein oder mit weiteren Tätern die Bilanzsumme und den Umsatz durch vorgetäuschte Einnahmen aufgebläht zu haben. Die Gesellschaft habe dadurch finanzkräftiger und für Anleger und Kunden attraktiver dargestellt werden sollen. Die Ermittlungsrichterin setzte den Haftbefehl gegen Auflagen wie die Zahlung einer Kaution und einer wöchentlichen Meldung bei der Polizei aus. Er sei damit aber nicht aufgehoben. Brauns Anwalt war für einen Kommentar nicht erreichbar. Wirecard lehnte eine Stellungnahme ab.

Der in den vergangenen Jahren stark gewachsene Zahlungsdienstleister hat Anfang der Woche eingeräumt, dass ein bilanziertes Vermögen von 1,9 Milliarden Euro auf Konten in Asien aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht existiert. Braun trat zurück, der für das Asiengeschäft zuständige Vorstand Jan Marsalek wurde fristlos entlassen. Berichte und Spekulationen darüber, dass bei Wirecard Bilanzen manipuliert worden seien, gab es immer wieder. Doch konkrete Anhaltspunkte für Straftaten fanden die Staatsanwälte bislang nicht. Ein Wendepunkt war nach Angaben von Beteiligten erreicht, als Wirecard unter dem neuen Chef James Freis am Wochenende die Staatsanwaltschaft und die Öffentlichkeit über die fehlenden Milliarden informierte.

Nach den jüngsten Entwicklungen erweiterte die wegen ihres Verhaltens im Fall Wirecard selbst in der Kritik stehende Finanzaufsicht BaFin am Dienstag ihre Strafanzeige gegen den Konzern wegen des Verdachts der Marktmanipulation. "Die Ad-hoc-Mitteilung der Wirecard AG vom 22. Juni 2020 verstärkt den Verdacht, dass die bilanzielle Darstellung zu Umsatzerlösen und Vermögensgegenständen in den Geschäftsberichten (zum 31.12.2016, 31.12.2017 und 31.12.2018) unrichtig war", erklärte eine Bafin-Sprecherin.

ZEIT BEI VERLÄNGERUNG VON KREDITLINIEN DRÄNGT

Insidern zufolge versuchen derzeit die Gläubigerbanken, sich einen Überblick zu verschaffen über die finanzielle Situation von Wirecard. Für die Verhandlungen mit Wirecard sei die auf Sanierungsfälle spezialisierte Agentur FTI mandatiert worden. Ende des Monats müssten die Gehälter für rund 5500 Mitarbeiter gezahlt werden und man versuche schnellstens, eine Entscheidung zu finden, sagte ein Insider. Eine Verlängerung werde es - wenn überhaupt - nur unter sehr harten Bedingungen geben, sagte eine andere mit der Sache vertraute Person. Wirecard hatte erklärt, man sei in "konstruktiven Gesprächen" mit den Instituten.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nannte den Skandal bei Wirecard in einem Interview mit Reuters "in höchstem Maße besorgniserregend". Die externen Kontrollen seien offenbar nicht effektiv genug gewesen. "Kritische Fragen stellen sich auch der Aufsicht über das Unternehmen, insbesondere mit Blick auf die Rechnungslegung und die Bilanzkontrolle." Er stellte schärfere Regeln in Aussicht. "Wir müssen schnell klären, wie wir unsere regulatorischen Vorschriften ändern müssen, um auch komplexe Unternehmensgeflechte flächendeckend, zeitnah und schnell überwachen zu können."

Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) warnte vor einem Imageverlust des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es müsse ermittelt werden, wie sich Milliardenbeträge offenbar in Luft auflösen konnten, sagte er in einem Interview mit "t-online.de". "Und es muss herausgefunden werden, ob die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden - oder ob jemand dafür auch juristisch zur Rechenschaft gezogen werden muss." Ein solcher Fall dürfe sich mit Blick auf das Vertrauen des Finanzplatzes Deutschland nicht wiederholen.

WIRECARD VERDRÄNGTE DIE COMMERZBANK AUS DEM DAX

Die Finanzaufsicht BaFin will Insidern zufolge verhindern, dass die Wirecard Bank von den Turbulenzen ihres Mutterkonzerns mit in die Tiefe gerissen wird. Man wolle sicher stellen, dass Gelder der Bank nicht für das Stopfen der Milliardenlöcher der Wirecard AG verwendet würden, sagten mit der Sache vertraute Personen. Wirecard und die Behörde wollten sich nicht äußern. Laut dem im Bundesanzeiger veröffentlichten Geschäftsbericht 2018 lagen Ende 2018 Spareinlagen in Höhe von 1,39 Milliarden Euro bei der Wirecard Bank.

Braun stand fast zwei Jahrzehnte an der Spitze des Konzerns, den er vom Zahlungsanbieter auf Glückspiel- und Porno-Websiten zum globalen Finanzdienstleistungskonzern ausgebaut hat. 2018 verdrängte das ehemalige Startup die Commerzbank aus dem Dax und Braun wurde als Visionär gefeiert, der den Banken das Fürchten lehren würde. Wirecard wickelt Zahlungen zwischen Händlern und Kunden ab und gibt auch Kreditkarten heraus. Das nun im Zentrum des Bilanzskandals stehende Geschäft galt lange als der größte Wachstumstreiber des Unternehmens.