Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Ein Orakel zieht ins Kanzleramt ein - der Sozialdemokrat Olaf Scholz ist neuer Bundeskanzler. Er ist bekannt für rätselhafte Sätze, bei denen man sich wundert, was er genau gesagt hat. Für die kommenden vier Jahre der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene verspricht das einen Regierungsstil, bei dem der Kanzler sich nicht gerne in die Karten schauen lässt.

Deutlich wurde das auch bei seiner offiziellen Ernennung durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Scholz verzog am Mittwoch kaum die Miene. Erst mit Verzögerung war ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen.

Natürlich kann der erfahrene Politiker Scholz auch deutliche Worte sagen. Bei schwierigen Themen hält er sich jedoch gerne im Ungefähren. Das gewinnt ihm Zeit, um Lösungen zu finden. Denn vor ihm liegt ein Berg an Schwierigkeiten. Der Umbau Deutschlands hin zur Klimaneutralität wird ein Kraftakt. Die Gesellschaft, die Wirtschaft und damit auch die Steuereinnahmen leiden unter der Corona-Pandemie, was den finanzpolitischen Spielraum der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP einschränkt.


   Balanceakt bei Nord Stream 2 und in der China-Politik 

In der Außenpolitik droht Scholz Ungemach. Er hält sich angesichts der neuen russischen Machtdemonstrationen an der ukrainischen Grenze bedeckt zur Zukunft der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2. Hier gibt es Differenzen innerhalb der Koalition. Seine SPD ist gegenüber Moskau traditionell weniger kritisch eingestellt als die Grünen und die FDP.

Scholz enger Weggefährte, der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), hat das Projekt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eingefädelt. Dieser pochte am Mittwoch am Rande der Kanzlerwahl im Bundestag denn auch erneut auf die Genehmigung der Pipeline. In außenpolitischen Fragen werden aber die nun mitregierenden Grünen mit Außenministerin Annalena Baerbock einen anderen Akzent setzen wollen als Scholz.

Nord Stream 2 ist auch Deutschlands wichtigen Verbündeten in der Europäischen Union und besonders in den USA ein Dorn im Auge. Die USA haben Russland vorgeworfen, einen Einmarsch in die Ukraine vorzubereiten. Sie fürchten, Nord Stream 2 würde Russlands Einfluss in Europa weiter stärken und fordern daher Sanktionen gegen die Gasröhre.

Scholz wird hier eine schwierige Balance finden müssen zwischen den Forderungen der internationalen Verbündeten, seinen Koalitionspartnern und den deutschen Interessen, die Energieversorgung bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atom- und Kohleverstromung zu sichern. Die Stimmung zwischen Berlin und Moskau dürfte daher in der Post-Merkel-Ära nicht besser werden.

In den Beziehungen zu China hat er sich in Scholz'scher Manier in den vergangenen Tagen öffentlich nicht festlegen lassen wollen, ob er Peking tatsächlich eine Kontinuität der deutschen China-Politik zugesagt hat, wie in Medien berichtet wurde. Seine Koalitionspartner, die Grünen und die FDP, sehen China aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation und Wirtschaftspolitik deutlich kritischer. Die Beziehungen zu China dürften daher ein Zankapfel in der Koalition und somit insgesamt schwieriger werden.


   Corona als Bewährungsprobe 

Die größte Herausforderung für Scholz wird allerdings die Corona-Pandemie. Die menschlichen und wirtschaftlichen Schäden sind immens. Hier sind die Rahmenbedingungen für die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene denkbar schwierig. Die Infektionszahlen sind noch immer zu hoch. Nach Ansicht von Virologen sind zu wenige Menschen geimpft, um die Pandemie zu besiegen. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr durch die neue Omikron-Variante drohen daher weitere Einschränkungen für eine von Pandemiemüdigkeit geprägten Bevölkerung und besonders für latente Impfgegner.

Wirtschaftlich wird es wohl noch schwerer für den Einzelhandel, die Gastronomie und die Veranstaltungsbranche. Sie leiden seit nunmehr fast zwei Jahren unter schwindenden Umsätzen aufgrund der Pandemie. Ökonomen warnen bereits, dass die staatlichen Hilfen nicht über den März hinaus verlängert werden sollten. Denn der Anpassungsprozess bei den Unternehmen dürfe nicht verhindert werden.

Scholz wird sich in dieser Krise erst noch bewähren müssen. Die Beendigung der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite durch die Ampel-Parteien war kein kluger Schachzug. Das Infektionsschutzgesetz, das stattdessen gilt, musste in Rekordzeit bereits nachgebessert werden. SPD, Grüne und FDP sind hier von der Realität eingeholt werden.


   Späte Positionierung 

Scholz hat sich erst nach einer Phase des Schweigens deutlich positioniert. Das hat ihm viel Kritik eingebracht. Ende November hat er dann ein klares Impfziel von 30 Millionen Dosen bis Weihnachten vorgegeben und seine Unterstützung für eine Impfpflicht kundgetan. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht er bei der Impfpflicht auf seiner Seite.

Aber es gibt auch lautstarke Gegner. Fackelaufzüge vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin erinnern an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte.

Hier muss Scholz klare Kante zeigen und gleichzeitig die noch zögerlichen Ungeimpften von dem Nutzen der Vakzine überzeugen.

Auf Scholz wartet ein Berg von Problemen. Die deutschen Wähler haben an ihm sein Versprechen von Stabilität geschätzt. Sicher ist aber, es wird ein Kraftakt.

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December 08, 2021 07:56 ET (12:56 GMT)