Von Stephen Wilmot

NEW YORK (Dow Jones)--Ein Punkt liegt bei der Automobilbranche derzeit kristallklar auf der Hand. Wie auch immer die Anleger zu Tesla stehen, es ergibt Sinn, jetzt Geld aus der Autoindustrie abzuziehen. Vor zwei Jahren waren die zehn größten Autohersteller der Welt nach Marktwert außerhalb Chinas zusammen gerade einmal etwa 680 Milliarden US-Dollar wert. Jetzt werden sie mit mehr als 2 Billionen Dollar bewertet. Tesla ist vom dritten Platz zu einem Unternehmen mit enormen Vorsprung aufgestiegen. Und in diesem Monat haben die Elektroautohersteller Rivian und Lucid die Wettbewerber Honda und Ferrari in der Rangliste abgelöst. Die Aktien von Rivian haben sich seit ihrem Börsengang in der Vorwoche mehr als verdoppelt.

Dieser außergewöhnliche Anstieg des Marktwerts, der nach den Veränderungen in der Rangfolge zu urteilen hauptsächlich für Elektrofahrzeuge gilt, lässt sich kaum rational erklären. Das Ertragspotenzial einer reifen Branche kann sich nicht verdreifacht haben. Es ist möglich, dass Elektroautos irgendwann profitabler sein werden als benzinbetriebene Fahrzeuge - Teslas operative Marge von 14,6 Prozent im dritten Quartal zeigt das Potenzial -, aber eine Verdreifachung schießt weit übers Ziel hinaus.


   Tesla ist Börsianern jetzt das Vierfache von Toyota wert 

Die schwierigere Frage, die bei den Anlegern derzeit für mehr Aufregung sorgt als jede andere, ist, welche Unternehmen am meisten überbewertet sind. Sind es Tesla, Rivian und Lucid, die exponentiell wachsen müssen, um einer Bewertung gerecht zu werden, die nichts mit ihren aktuellen Umsätzen zu tun hat? Oder sind es die etablierten Giganten wie VW und Toyota, die auf unterschiedliche Weise damit zu kämpfen haben, sich mit der E-Mobilität zurechtzufinden?

Einfache Marktwertvergleiche zeigen, dass Tesla jetzt vier Toyotas wert ist. Es ist also so, dass konventionelle Bewertungsmultiplikatoren eine Überbewertung der EV-Spezialisten offenbaren. Tesla-Aktien werden mit dem 127-fachen des voraussichtlichen Gewinns gehandelt, verglichen mit weniger als 10 für die meisten traditionellen Autohersteller. Da Rivian und Lucid gerade erst mit der kommerziellen Produktion begonnen haben, verfügen sie noch nicht einmal über aussagekräftige Finanzzahlen, mit denen sie ihren Marktwert von mehr als 100 Milliarden Dollar vergleichen könnten. Die Märkte können sich ein Urteil lediglich über Geschäftspläne bilden.


   Selbst Altmeister der Branche könnten überbewertet sein 

Aber wenn man weiter in die Zukunft blickt, ist es angesichts der heutigen rekordtiefen Realrenditen für sichere Anlagen auch leicht, die Hersteller der alten Schule als überbewertet zu betrachten. General Motors und Ford haben aufsehenerregende Investitionen in Elektroautos angekündigt, die mit den Gewinnen aus dem Geschäft mit konventionellen Fahrzeugen finanziert werden, und die Anleger haben ihren Mut belohnt. Beide Aktien notieren in der Nähe der Höchststände des vergangenen Jahrzehnts. Aber sie haben noch nicht über die Herausforderung gesprochen, ihre riesigen Verbrennungsmotoren-Betriebe abzuwickeln. In dem Maße, in dem Elektroautos Marktanteile gewinnen, wird den Autokonzernen wohl eine Rechnung präsentiert, die den Anlegern nicht schmecken dürfte. Immerhin sind die Mitarbeiter der Automobilbranche für ihren hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad bekannt und sie dürften auf satte Entschädigungen pochen.

Die Bewertung von Tesla ist nur dann wirklich gerechtfertigt, wenn das Unternehmen seine angestrebte Produktionskapazität von 20 Millionen Fahrzeugen pro Jahr bis 2030 erreicht, und das bei sehr gesunden Gewinnspannen. Elon Musks Ehrgeiz ist angesichts der Probleme, mit denen Autohersteller in der Vergangenheit konfrontiert waren, wenn sie sich auch nur der 10-Millionen-Marke näherten, etwas überheblich - man denke nur an den Dieselskandal bei VW, die unbeabsichtigte Beschleunigung bei Toyota oder das Scheitern der Allianz zwischen Renault, Nissan und Mitsubishi.


   Gipfelstürmer Musk kann Branche weiter auf den Kopf stellen 

Dennoch ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Gipfelstürmer über einen überraschend langen Zeitraum einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Gewinnen der Branche einnimmt, so Analyst Philippe Houchois von Jefferies, der Tesla zum Kauf empfiehlt. Ford gelang dies in den 1910er Jahren und Toyota in den 1970er Jahren. Beide Unternehmen brachten eine neue Einfachheit in den Automobilbau, die auch Tesla anstrebt. Toyotas Vorsprung in der traditionellen Massenproduktion von Autos besteht bis heute in Form von branchenführenden Margen.

In dieser Debatte, die sich mit der Zeit nur langsam beruhigen wird, gehen die Emotionen hoch. Klar scheint derzeit nur, dass die Anleger die ungewöhnlich große Unsicherheit darüber, wie die Automobilindustrie im Jahr 2030 aussieht, bei weitem nicht angemessen berücksichtigen. Wenn sich der Nebel verdichtet, ist überstürzte Euphorie nicht die beste Antwort.

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November 17, 2021 10:44 ET (15:44 GMT)