Von Georgi Kantchev

MOSKAU (Dow Jones)--Die Demonstrationen in Russland an diesem Wochenende zur Unterstützung des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny zeigen, vor welcher Herausforderung Präsident Wladimir Putin steht, wenn er die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung vor den Parlamentswahlen in diesem Jahr in den Griff bekommen will. Die nicht genehmigten Proteste am Samstag gehörten zu den größten der letzten Jahre. Zehntausende Menschen taten trotz eisiger Kälte, der Bedrohung einer Covid-19-Ansteckung und trotz einer möglichen Verhaftung ihren Unwillen kund. Russische Sicherheitskräfte nahmen mehr als 3.500 Menschen fest, das ist nach Einschätzung unabhängiger Beobachter die größte Zahl seit mindestens neun Jahren.

Die Proteste stellen den Kreml vor ein Dilemma: Entweder beugt sich die Regierung dem Druck der Straße und untergräbt mit einer Freilassung Nawalnys ihre eigene Autorität, oder sie riskiert weitere Proteste, indem sie ihn weiter in Haft lässt. Zudem könnte dies die Opposition vereinen. "Es gibt nur wenige gute Optionen für Putin", sagte Abbas Gallyamow, ein in Moskau ansässiger Politberater und ehemaliger Redenschreiber für Putin. Es sehe so aus, als würde Nawalny angreifen und der Kreml sich letztlich nur verteidigen.


   Zustimmungswerte für Putin sinken 

In der russischen Bevölkerung sind die Zustimmungswerte für Putin in den vergangenen Jahren auch wegen der schwächeren Wirtschaft und der Proteste in den Keller gegangen. Nach Daten des Meinungsforschungsinstitut Levada Center sind die Zustimmungswerte für Putin von fast 90 Prozent im Jahr 2015 auf 65 Prozent im letzten November gefallen. Beobachter sind der Auffassung, die Nawalny-Demonstrationen könnten für Putins Stellung zu einer Bedrohung werden, sollten diese anhalten, und das trotz der verabschiedeten Verfassungsänderungen 2020, dank derer Putin bis 2036 an der Macht bleiben könnte. Tatiana Stanowaya, Politologin und Gründerin der Analysegesellschaft R.Politik, sagte, die Proteste könnten für Putin die größte Herausforderung seiner 20-jährigen Amtszeit werden.

Die Proteste, die in mehr als 100 Städte von Moskau bis Wladiwostok stattfanden, haben Nawalny nach Aussage von Analysten Auftrieb gegeben. Aber die entscheidende Frage ist, ob seine Bewegung den Schwung halten kann. Nawalnys Verbündete loben die Demonstranten und fordern eine Fortsetzung der Kundgebungen am nächsten Wochenende. Der Kreml verurteilt die Proteste und bezeichnete diese als rechtswidrig. Die genaue Größe der Proteste ist unklar. Die Organisatoren in Moskau sagten, dass mindestens 40.000 Menschen in der Stadt unterwegs waren, während die Behörden nur eine Anzahl von 4.000 meldeten.

Die russische Menschenrechtsorganisation OVD-Info sagte, dass landesweit 3.592 Menschen festgenommen wurden. In Moskau wurden 29 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert, aber seitdem wieder entlassen. Laut OVD-Info drohen den Festgenommenen Geldstrafen bis zu 300.000 Rubel (umgerechnet 3.271 Euro) und bis zu 30 Tage Gefängnis. Der Leiter des Menschenrechtsrates des Kremls, Valery Fadeyew, sagte, dass die meisten Häftlinge gegen Zahlung einer Geldstrafe freigelassen werden sollen. Aber am späten Samstag hieß es vom russischen Untersuchungsausschuss, es seien Ermittlungen wegen Sachbeschädigung, Gewalt gegen Polizeibeamte und Rowdytum eingeleitet worden.


   Im September stehen Parlamentswahlen an 

Da im Herbst in Russland Parlamentswahlen anstehen, wird der Umgang des Kremls mit Nawalny komplizierter. Der Oppositionsführer hat eine Strategie namens "Smart Voting" propagiert, die Kandidaten identifiziert, die am besten geeignet sind, um gegen einen jeweiligen Kreml-Kandidaten der Regierungspartei "Geeintes Russland" zu gewinnen. Bei den Moskauer Stadtratswahlen 2019 hat diese Strategie die Anzahl der Sitze von "Geeintes Russland" um ein Drittel reduziert, obwohl die Ergebnisse anderswo durchwachsen waren. "Sollte er freigelassen werden, dann wird das das Smart-Voting befeuern, was für den Kreml ein Risikofaktor ist", sagte Gallyamow.

Die Proteste, verbunden mit dem internationalen Aufschrei nach der Vergiftung Nawalnys im August, vermasseln die langjährige Taktik des Kremls, Nawalny und seine Bewegung als unbedeutend abzutun. Putin und andere Regierungsmitglieder nennen ihn normalerweise nicht beim Namen, sondern nennen ihn stattdessen einen Blogger oder, seit kurzem "den Berliner Patienten". Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die Verbündeten von Nawalny in der Lage sein könnten, die Protestwelle aufrechtzuerhalten. Zwei Blitzumfragen unter den Demonstranten in Moskau am Samstag ergaben, dass etwa 40 Prozent zum ersten Mal demonstrierten und dass die meisten Teilnehmer relativ jung waren. "Dies bedeutet, dass die Botschaft Nawalnys sehr, sehr viele erreicht hat", schrieb Alexandra Arkhipowa, Anthropologin an der Moskauer State University for the Humanities, nach einer Umfrage auf einem Social-Media-Kanal.

Aber Russlands Opposition zeigte jüngst Anzeichen einer Zersplitterung sowie interne Grabenkämpfe. Der Kreml hat lange daran gearbeitet, seine Rivalen klein zu reden und politische Parteien zu installieren, die von der Regierung toleriert werden. Gallyamow sagte, der Erfolg der Proteste am Samstag sei ein Risiko für die Bewegung von Nawalny, weil so die Messlatte hoch gehängt wird. "Sie können die Proteste nicht abflachen zu lassen und müssen bis zu den Wahlen im September vereint bleiben", sagte er und fügte an: "Dies war ein Sieg für die Opposition, aber nur ein Triumph in einer einzigen Schlacht. Es liegt noch eine lange Auseinandersetzung vor ihnen."

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January 25, 2021 08:59 ET (13:59 GMT)