Zürich (awp) - Die Coronakrise beschleunigt die Produktionsverlagerung von Unternehmen von China weg. Denn die Pandemie hat schmerzlich gezeigt, wie abhängig die Industrieländer von der Herstellung im Reich der Mitte sind.

Viele Staaten überboten sich auf dem Höhepunkt der Pandemie im Frühling gegenseitig, um an die Lieferungen an dringend benötigtem Material wie Masken, Plastikhandschuhe oder Beatmungsgeräte zu gelangen, die überall ausverkauft waren. Das trieb die Preise steil in die Höhe: So wurden plötzlich für Papiermasken, die normalerweise ein paar Rappen kosteten, mehrere Franken verlangt. Viele schlaue Zwischenhändler machten Kasse.

In den 20 grössten Wirtschaftsnationen seien 40 bis 80 der Exporte Teil globaler Lieferketten, stellte die Swiss Re in ihrer neuen Sigma-Studie fest, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Dabei sei China der weltgrösste Produktionsstandort. So machten chinesische Unternehmen 41 der 200 grössten Lieferanten des iPhone-Herstellers Apple aus.

In der Schweiz beträgt die Abhängigkeit der Exporte von globalen Lieferketten knapp 60 Prozent. Am abhängigsten sind die Niederlande. Am geringsten ist die Abhängigkeit bei Australien und Brasilien mit rund 40 Prozent.

"Während der Pandemie kam der internationale Handel durch die Lockdowns fast vollständig zum Erliegen; Unternehmen und Regierungen gleichermassen mussten erkennen, welche Auswirkungen Unterbrechungen unserer hochkomplexen und spezialisierten globalen Lieferketten haben können", erklärte Swiss Re-Chefökonom Jérôme Jean Haegeli. Gerade im Gesundheitswesen habe die Coronakrise sehr schnell die Schwachstellen von Lieferketten aufgezeigt.

Die Unternehmen müssten sich von ihrer romantischen Vorstellung der "Just-in-Time-Herstellung" verabschieden, sagte Haegeli in einer Onlinemedienkonferenz. Der Mensch habe auch zwei Nieren, obwohl es keinen ökonomischen Grund für zwei Nieren gebe. Aber wenn mal eine versage, sei man verdammt froh um die zweite. Lieferketten seien nur so stark wie ihr schwächstes Glied.

Rückverlagerungen in Industrieländer

Nun wollen die Unternehmen ihre Abhängigkeit von China verringern und bauen anderswo Produktionsstandorte als Ergänzung zu den chinesischen Werken auf. In den nächsten fünf Jahren dürften wertschöpfende Exporte im Wert von 300 Milliarden Dollar aus China abgezogen werden, schätzt die Swiss Re-Studie.

Davon dürften 200 Milliarden in Billiglohnländer Asiens, Osteuropas und Lateinamerikas gehen. Davon würden am meisten Vietnam, Kambodscha, Malaysia und Thailand profitieren.

Weitere Exporte im Wert von rund 100 Milliarden Dollar dürften von China in die G7-Industrieländer sowie Südkorea und Taiwan zurückverlagert werden, hiess es. Davon würden am meisten die USA, Deutschland, Frankreich und Italien profitieren, schätzt die Studie. Die Schweiz ist auf keinem Tabellenplatz.

Der Umbau der Lieferketten konzentriere sich auf das Gesundheitswesen, den Technologiesektor, Konsumgüter, Textilien und die Elektronikbranche. "Hier werden sicherlich auch einige Produktionskapazitäten wieder in entwickelte Länder zurückverlegt", hiess es.

Dank neue Technologien wie der Robotik könnten Lieferketten vereinfacht und verkürzt werden. So könnten moderne industrielle 3D-Drucker rechtzeitig und ohne Qualitätseinbussen Prototypen erstellen und Kleinaufträge bearbeiten, hiess es.

Schub für die Verlagerungsländer

Der Umbau der Lieferketten sorgt in den neuen Produktionsländern für Schub. So dürfte das Bruttoinlandprodukt (BIP) in den Verlagerungsländern jährlich um 0,7 Prozent steigen. Für die Länder, in die Produktionskapazitäten zurückverlegt werden, schätzt die Swiss Re einen jährlichen BIP-Anstieg des BIP von 0,2 Prozent.

Die Reorganisation der weltweiten Lieferketten werde im Laufe der fünfjährigen Übergangsphase in den alternativen Produktionsländern einen kombinierten Export- und Investitionszuwachs in Höhe von rund 1000 Milliarden Dollar generieren. Für die Weltwirtschaft wird im gleichen Zeitraum ein zusätzliches Wachstum von insgesamt 0,2 Prozent im Jahr erwartet. Der Aufbau einer zweiten Niere lohne sich, sagte Haegeli.

jb/rw