Erfahrene Anleger wissen: Der größte Feind der Finanzmärkte ist der Glaube an das Märchen "Diesmal ist alles anders". Doch diesmal geht es nicht um die Märkte, und es scheint tatsächlich, als ob wir diesmal wirklich Neuland betreten... Trumps erste Amtszeit war ein Ritt auf der Rasierklinge, geprägt von der Pandemie, doch das hat ihn nicht davon abgehalten, Amerikas Rolle im Weltgeschehen neu zu definieren. Jetzt ist er zurück – mit mehr Macht und einem stärkeren Team als je zuvor. Die Republikaner stehen kurz davor, die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses zu übernehmen, und es sieht ganz danach aus, als ob Trump die Zügel ohne die Beschränkungen seiner ersten Amtszeit in Händen halten wird.
Bevor er zur Rede ansetzte, hat der Präsident erstmal eine Show hingelegt, die ihresgleichen sucht. Der Abend wurde mit einem energiegeladenen Auftritt der Village People und ihrem Hit "YMCA" eingeläutet, gefolgt von einer aufgeputschten Ansprache Musks, dessen angeblicher "römischer Gruß" für weltweite Empörung sorgte. Dann gab es noch die Chance, die Crème de la Crème der Weltpolitik zu beobachten, wie sie sich zum Feiern versammelte, bevor sie sich in die prunkvolle Kulisse der Kapitol-Rotunde zurückzog.
Wegen klirrender Kälte in Washington fand die Zeremonie drinnen statt. In seiner Amtsantrittsrede, die ungewohnt zurückhaltend ausfiel, verkündete Trump: "Das goldene Zeitalter Amerikas beginnt jetzt." Symbolträchtig ignorierte er dabei die beiden Bibeln, die seine Frau Melania ihm reichen wollte. Seine Rede, die an den gesunden Menschenverstand und den nationalen Zusammenhalt appellierte, hallte mit besonderer Wucht an dem Ort wider, den am 6. Januar 2021 seine Anhänger gestürmt hatten. Es scheint, als würde die Geschichte neu geschrieben: Diese einstigen "Rebellen" erhielten nur Stunden nach Trumps Worten eine präsidiale Begnadigung.
Unter den Anwesenden waren viele bekannte Gesichter, darunter die noch lebenden Ex-Präsidenten Joe Biden, Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama. Auch aktuelle Machtfiguren wie der argentinische Präsident Javier Milei oder die italienische Premierministerin Giorgia Meloni waren zugegen, ebenso Influencer wie Joe Rogan, der ehemalige Fox-News-Moderator Tucker Carlson oder der irische Boxer Conor McGregor. Doch die Medien hatten nur Augen für die kleine Elite der Milliardäre, die sich die Gunst des neuen Präsidenten sichern wollten.
Von Zuckerberg (Meta) über Bezos (Amazon) und Cook (Apple) bis hin zu Musk (Tesla), Pichai (Alphabet) und Murdoch (Fox News) – sie alle waren da. Wilbur Ross, der Milliardär und Private-Equity-Guru aus Trumps erstem Kabinett, brachte es auf den Punkt: "Ein Geschäftsmanns Job ist es nicht, die Welt zu verändern, sondern sich ihr zu stellen." Die Zeiten ändern sich, und selbst die Bosse der als demokratisch und woke geltenden Firmen wie James Quincey von Coca-Cola mussten in die Knie gehen. Coca-Cola überreichte Trump sogar eine Sonderedition einer Diet Coke zu seiner Amtseinführung.
Der 45. Präsident, der nun zum 47. Präsidenten aufsteigt, verschwendete keine Zeit. Er verbrachte den Abend damit, eine Flut von Dekreten zu unterzeichnen: Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation, Schließung der Grenzen, Einfrieren von Asylanträgen und Entwicklungshilfen... Mit den Zügeln fest in der Hand will Trump auf einem unbeschriebenen Blatt beginnen. Und obwohl er in seiner Amtseinführungsrede die Außenpolitik des Landes mit keinem Wort erwähnte, ist die Botschaft klar: Amerika ist zurück auf dem Spielfeld.
Trumps Amtseinführung zeigt uns deutlich, warum die USA oft mit einem Imperium verglichen werden: Ihre wirtschaftliche Schlagkraft und die unzähligen Verhandlungshebel, die sie in der Hand halten, katapultieren sie an die Spitze der Welthierarchie. Der neue Präsident wird unser Bild, das an die Krönung von Napoleon I. anspielt, der seine Frau Joséphine zur Kaiserin machte, sicherlich zu schätzen wissen – ein starkes symbolisches Zeichen, das durch das Gemälde von Jacques-Louis David (Louvre-Museum) verewigt ist. Das Spiel ist eröffnet; nun liegt es an uns, den Nicht-Amerikanern, unsere Karten geschickt zu spielen oder aber vor der neuen Weltordnung das Knie zu beugen.
Zeichnung von Amandine Victor für MarketScreener