- von Christian Krämer und Jan Strupczewski

Brüssel/Berlin (Reuters) - Die Finanzpolitik in Europa soll nächstes Jahr die Konjunktur nicht mehr anschieben. Trotzdem hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die europäischen Schuldenregeln 2023 noch ausgesetzt zu lassen. Sie sollen erst 2024 wieder greifen. Das gibt den EU-Staaten mehr Spielraum, negative Effekte des Krieges in der Ukraine abzufedern. Bundesfinanzminister Christian Lindner kritisierte dies aber am Dienstag nach zweitägigen Beratungen mit seinen europäischen Amtskollegen. Er hält die Möglichkeit weiterhin sehr hoher Schulden für das falsche Signal. Vielmehr müsste die Bekämpfung der Inflation jetzt Vorfahrt haben.

"Wir brauchen keine Stimulierung der Konjunktur", sagte der FDP-Vorsitzende in Brüssel. Das sei in der Coronavirus-Pandemie anders gewesen. "Jetzt geht es darum, Druck von den Preisen zu nehmen." Deswegen müsse die lockere Finanzpolitik ein Ende finden, die Neuverschuldung reduziert werden.

Schrittweise werde aus der Unterstützung in diesem Jahr dann 2023 in den neutralen Modus gewechselt, sagte der Chef der Eurogruppe, der irische Finanzminister Paschal Donohoe. Seit 2020, als Europa und die Weltwirtschaft wegen der Corona-Einschränkungen in eine schwere Rezession rutschte, ist die Finanzpolitik extrem locker, was zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung geführt hat. Nun seien aber nur noch gezielte Unterstützungsmaßnahmen notwendig.

"Inflation ist ein ernstzunehmendes Risiko für die weitere wirtschaftliche Entwicklung", betonte Lindner. Es drohten Kaufkraftverluste und weniger Investitionen. Das Jahr 2023 sollte bereits für eine Konsolidierung der Finanzen genutzt werden, in Deutschland und Europa. Eine Rezession sei nicht in Sicht, die Arbeitsmärkte stabil. Alle Daten hätten dafür gesprochen, bei den EU-Schuldenregeln die Ausnahmeklausel nicht noch einmal zu ziehen.

Allerdings ist Lindners Position innerhalb der Ampel-Koalition umstritten. SPD-Fraktionsvize Achim Post sagte Reuters, er halte den Vorschlag der EU-Kommission für nachvollziehbar und vernünftig. "Diese Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten bleibt wichtig."

Der sogenannte Stabilitätspakt, der den Wert des Euro sichern soll, begrenzt die Neuverschuldung von EU-Staaten eigentlich auf drei Prozent und die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung. Gegen die Regeln wurde in der Vergangenheit aber immer wieder verstoßen, ohne dass dies spürbare Konsequenzen gehabt hätte. Die südlichen EU-Länder fordern seit längerem eine Reform.

UKRAINE-HILFEN SOLLEN SCHNELL AUSBEZAHLT WERDEN

Bei der Finanzierung der von Russland angegriffenen Ukraine geht es Lindner zufolge jetzt vor allem um die rasche Auszahlung eingesammelter Mittel, um den Liquiditätsbedarf der Regierung in Kiew zu decken. Die deutsche Förderbank KfW habe dazu am Dienstag einen Vertrag mit der Ukraine abgeschlossen, weitere 150 Millionen Euro als Kreditfinanzierung zur Verfügung zu stellen. "Niemand kann beziffern, wie groß der Bedarf ist, um das Land wieder aufzubauen." Erst müsse der Krieg gestoppt werden.

Die EU-Kommission will unterdessen am Mittwoch neue Rechtsvorschläge vorlegen, wie bestimmte Vermögenswerte leichter beschlagnahmt werden können. Dies solle geschehen, wenn Gelder in Verbindung mit Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel, Geldwäsche oder Verstößen gegen EU-Sanktionen stehen, wie aus einem Entwurf hervorgeht, den Reuters einsehen konnte. Viele EU-Staaten haben momentan Probleme, die gegen Russland verhängten Sanktionen auch durchzusetzen. Der Kommissionsvorschlag soll deswegen einen einheitlichen Rahmen schaffen. Bislang sind russische Vermögenswerte oft lediglich eingefroren, aber nicht beschlagnahmt. Teilweise wird gefordert, dies zu tun, um den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Um Eigentum zu beschlagnahmen, ist in der Regel aber eine vorherige Verurteilung nötig. Dem EU-Vorschlag zufolge könnte dies künftig in bestimmten Fällen auch schon bei Beschuldigten greifen.

(Weitere Reporter: Andreas Rinke und Francesco Guarascio. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)