BRÜSSEL/BERLIN (dpa-AFX) - In der Nato hat ein Jahr nach der beißenden "Hirntod"-Kritik von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Debatte über konkrete Reformvorschläge begonnen. Die Außenminister der 30 Bündnisstaaten debattierten am Dienstag erstmals über Handlungsempfehlungen einer Expertengruppe. Die insgesamt 138 Vorschläge zielen darauf ab, die politische Zusammenarbeit im Bündnis zu verbessern und schneller zu Entscheidungen zu kommen.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) nannte zum Auftakt der Beratungen als Ziele, die Nato mit einer Art "Frischzellenkur" fit für die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts zu machen. Die Bündnispartner müssten politisch wieder enger zusammenrücken. Angesichts der internen Spannungen ist allerdings höchst ungewiss, ob die Ziele erreicht werden können. Im Bündnisland Türkei wurden Vorschläge bereits vor der offiziellen Vorstellung verrissen.

Brisant ist dies, weil die Türkei wie jeder andere Nato-Staat ein Veto-Recht bei allen Bündnisentscheidungen hat - ihre Politik zugleich aber als einer der Hauptgründe dafür gilt, dass in der Nato überhaupt über eine Reform nachgedacht wird. So blockiert die Regierung in Ankara seit Jahren die Nato-Zusammenarbeit mit Drittstaaten, die bei ihr in Ungnade gefallen sind, wie Österreich. Hinzu kommen Alleingänge in Nordsyrien, beim Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 oder im Konflikt um Berg-Karabach.

Als unwahrscheinlich gilt, dass die Türkei Vorschlägen zustimmt, die ihren Handlungsspielraum schwächen könnten - genau die sind es allerdings, die wirklich eine Wiederbelebung der politischen Zusammenarbeit bewirken könnten.

So empfiehlt die Expertengruppe zum Beispiel, die Blockade von Bündnisentscheidungen zu erschweren und einen neuen Verhaltenskodex einzuführen. Darüber sollen sich die Nato-Staaten verpflichten, vor allen sicherheitspolitisch relevanten Entscheidungen die Alliierten zu konsultieren. Auch die politisch motivierte Blockade von Entscheidungen aus Gründen ohne Nato-Bezug soll künftig tabu sein. Damit dürfte die Türkei zum Beispiel nicht mehr die Zusammenarbeit mit Österreich blockieren - oder Ungarn nicht mehr Spitzengespräche der Nato mit der Ukraine.

Als einer der kleinsten gemeinsamen Nenner könnte am Ende bleiben, dass vor allem unverfängliche, aber mutmaßlich auch nicht besonders wirksame Handlungsempfehlungen umgesetzt werden. So empfiehlt die Expertengruppe zum Beispiel, mehr Gespräche auf hoher politischer Ebene zu führen - nicht nur in der Nato-Zentrale in Brüssel, auch in Mitgliedstaaten. So könnten zusätzliche Treffen der Außenminister angesetzt und auch Zusammenkünfte von Innenministern zum Thema Terrorismus einberufen werden.

Maas wollte sich am Dienstag nicht zu der Frage äußern, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn ein Großteil der Empfehlungen wegen des Widerstands einzelner Staaten nicht umgesetzt werden kann. Diplomaten aus anderen Ländern wurden zumindest im Hintergrund deutlicher. Die Strategie, freundlich mit der Türkei umzugehen, um sie nicht als Bündnispartner zu verlieren, komme klar an ihr Ende, sagte der Vertreter eines großen Nato-Lands jüngst in Brüssel. Der "Fall Türkei" müsse jetzt offen angesprochen werden. Hoffnung sei, dass der künftige US-Präsident Joe Biden ähnliche Vorstellungen habe.

Bitter wäre ein Scheitern der Reformbemühungen nicht nur für Maas, sondern auch für den früheren Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière. Der CDU-Politiker leitete die Arbeit der Expertengruppe in den vergangenen Monaten gemeinsam mit dem früheren US-Diplomaten Wess Mitchell. Jetzt muss er ohne Einflussmöglichkeiten abwarten, was aus seinen Empfehlungen wird.

Klarheit soll spätestens bei einem Nato-Gipfel herrschen, den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im ersten Halbjahr des kommenden Jahres organisieren will. Für Frankreich wird daran aller Voraussicht nach wieder Macron teilnehmen, der mit seiner "Hirntod"-Kritik den Finger in die Wunde gelegt hatte.

Macron wollte damit auch die fehlende Abstimmung bei wichtigen Entscheidungen anprangern. Negativ-Beispiel für ihn war zum Beispiel die Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien, die in der Nato nicht abgesprochen war und erst durch einen ebenfalls nicht abgesprochenen Rückzug von US-Soldaten aus dem Gebiet möglich wurde./aha/DP/jha