P Michel: Guten Abend allerseits! Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl, verehrter Herr Bundeskanzler. Ich möchte Sie hier in Brüssel willkommen heißen. Ihr Besuch in Brüssel sendet ein ganz starkes Signal. Ich möchte Ihnen meine Dankbarkeit für Ihr ganz starkes europäisches Engagement ausdrücken.

Wir hatten heute die Gelegenheit, über verschiedene Themen auf der Tagesordnung des Europäischen Rates zu diskutieren, nicht nur für diese Woche, sondern für die nächsten Monate.

Wir sind davon überzeugt, dass die Rechtsstaatlichkeit und die Grundprinzipien der Demokratie im Kern des europäischen Einigungsprojektes stehen. Es ist wichtig, unsere Grundwerte und Grundprinzipien zu schützen.

Zweitens sind wir davon überzeugt, dass der Wohlstand und die doppelte Wende, nämlich die digitale und die ökologische Wende, entscheidend sind. Wir müssen dabei zusammenarbeiten, um den Herausforderungen gerecht zu werden. Wir müssen aus diesen Herausforderungen Chancen machen für mehr Wachstum, für mehr Entwicklung, für mehr Innovationen und für mehr Arbeitsplätze in Europa beziehungsweise überall.

Zum Schluss möchte ich die Sicherheit und die Stabilität nennen. Wir wissen, dass das sehr ernsthafte Herausforderungen sind. Deswegen ist es wichtig, sich zu engagieren, nicht nur in der Nachbarschaft Europas. Es ist wichtig, ein ambitioniertes internationales Programm zu entwickeln, auch die Chancen im Europäischen Rat zu nutzen, einen Meinungsaustausch über die kollektive Intelligenz der Europäischen Union zu führen und zu identifizieren, was unsere gemeinsamen Ziele sind und welche Instrumente wir einsetzen wollen, um unsere Werte voranzubringen und zu verteidigen und unsere Interessen zu schützen, auch die Interessen unserer Bürger überall in Europa.

Verehrter Herr Bundeskanzler, es ist ein Vergnügen, Sie zu treffen. Wir werden bald, nämlich in wenigen Tagen, die Gelegenheit bekommen, uns persönlich in Brüssel wieder zu treffen; denn nächste Woche finden hier in Brüssel der Gipfel der Östlichen Partnerschaft und die Tagung des Europäischen Rates mit vielen interessanten Themen statt.

BK Scholz: Ich bin sehr froh, dass ich heute gleich zwei bedeutende Gesprächspartner hier in Brüssel antreffen und dass ich bei beiden an Gespräche anknüpfen kann, die ich schon geführt habe, bevor es in Deutschland mit der neuen Regierung losgegangen ist. Das am zweiten Tag fortzusetzen und hier konkret über die Dinge zu reden, die für Europas Zukunft wichtig sind, ist eine gute Sache. Das ist auch deshalb gut, weil es uns darum gehen muss, dass die Europäische Union stark ist, dass sie ihre Möglichkeiten hat und auch nutzt und dass wir den Weg finden, wie wir die Souveränität Europas weiter unterstreichen können.

Aus meiner Sicht ist eines der ganz großen Themen und Projekte, worüber wir zu Recht vertieft gesprochen haben: Wie bekommen wir es hin, die industrielle Modernisierung zu organisieren, die wir brauchen, damit wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten können und damit wir eine klimaneutrale Industrie sich entwickeln lassen können? Das erfordert schnelle, zügige Entscheidungen, die jetzt, im nächsten Jahr und in den nächsten Jahren zu treffen sind, damit das gelingt. Für Deutschland ist das insbesondere verbunden mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, der Windkraft auf hoher See und an Land, auch mit dem Ausbau der Solarenergie, mit dem Ausbau des Übertragungsnetzes für Strom und natürlich mit den Investitionen, die die Wirtschaft zu tätigen hat, um Güter auf andere Weise zu produzieren, als das heute der Fall ist. Dabei wird es um Strom gehen, damit das klimaneutral funktionieren kann.

Wir sind uns darüber einig, dass das nicht ohne die massive Beschleunigung von Genehmigungsverfahren geschehen wird. Das ist ein Projekt, das wir uns in Deutschland vorgenommen haben, das aber nur dann wirksam sein wird, wenn das gleichzeitig ein europäisches Projekt ist. Nur so können wir die Geschwindigkeit erreichen, die wir brauchen, um diesem beherzten Vorgehen auch zu entsprechen.

Wir haben uns auch über die Frage der Sicherheit unterhalten. Klar, wir alle sind sehr besorgt über die vielen Truppen, die wir an der ukrainischen Grenze sehen. Deshalb ist es wichtig, dass Europa in dieser Frage klar und entschieden ist und noch einmal unterstreicht, dass die Grenzen in Europa unverletzbar und unverletzlich sein sollen und dass sich alle an die entsprechenden Regeln für eine gemeinsame Sicherheit in Europa halten. Das sind wichtige Themen, die uns auch noch die nächste Zeit beschäftigen werden. Wir haben im Übrigen auch viele Fragen sehr genau besprochen, die beim Europäischen Rat eine Rolle spielen werden. Ich bin sehr froh, dass das auf diese Weise losgeht.

Frage: Eine Frage an den Bundeskanzler und den Ratspräsidenten: Mit Ihrem Amtsantritt haben sich auch die Kräfteverhältnisse in Europa geändert. Die EVP, die als die stärkste Parteienfamilie die Schicksale Europas lange maßgeblich mitbestimmt hat, ist jetzt abgelöst worden. SPE ist sehr viel stärker. Was bedeutet das für Europa? Ist das eine Art sozialdemokratischer Zeitenwende hier in Europa? Wo verändern sich dann Themen, was möglicherweise auch schon bei dem nächsten Gipfel spürbar sein wird?

BK Scholz: Ich habe hier als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gesprochen und nicht als sozialdemokratischer Parteipolitiker. Ich denke, dass das auch die Art und Weise ist, wie in Europa gut zusammengearbeitet werden muss. Wir müssen ganz unabhängig von den Parteifarben und den jeweiligen Regierungen, die wir haben, eine gemeinsame Zukunft in Europa entwickeln.

Natürlich, wenn ich das als Sozialdemokrat und als sozialdemokratischer Kanzler sagen darf, freue ich mich darüber, dass sich gezeigt hat, dass es eine Perspektive für moderne, fortschrittliche Politik im 21. Jahrhundert gibt, dass die Fragen, die uns umtreiben, auch viele Bürgerinnen und Bürger umtreiben und dass sich das auch in den Wahlentscheidungen niederschlägt, die Fragen, ob es eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger gibt, ob man sicher sein kann, in zehn, zwanzig, dreißig Jahren noch einen guten Arbeitsplatz mit guter Bezahlung zu haben, wie es in einer Welt zugeht, die weiter zusammenwächst, in der zehn Milliarden Bürgerinnen und Bürger auf dem ganzen Planeten leben, in einer Welt, in der viele große Mächte und auch starke Wirtschaftsnationen neu auftreten werden im Verhältnis zu der Realität, die wir die letzten fünfzig oder hundert Jahre kennengelernt haben. Diese Sicherheit zu vermitteln, indem wir auf die notwendige Modernisierung setzen und es auch so machen, dass jeder diese Perspektive wahrnimmt, das ist die eine große Aufgabe.

Die zweite ist, dafür zu sorgen, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft stark bleibt. Ich habe über Respekt gesprochen, über die Frage, dass niemand auf den anderen hinabschaut, sondern wir uns auf Augenhöhe begegnen und dass sich das eben auch in guten Regelungen niederschlägt, die wir miteinander für ein soziales Miteinander haben, wo jede Arbeitsleistung, jede berufliche Tätigkeit, jede Lebensleistung gleich anerkannt wird. Das habe ich mir jedenfalls zu eigen gemacht.

Vielleicht ist es ja ein schönes Zeichen, dass so ungefähr um diese Zeit in einem der Räte Europas eine Entscheidung über Mindestlöhne in Europa vorbereitet worden ist. Das entspricht ja dem, was wir selber tun.

P Michel: Einheit ist ein hohes europäisches Gut. Einheit ist auch eine Stärke. Wenn wir geeint sind, sind wir stärker. Das ist auch besser für die europäischen Bürgerinnen und Bürger überall und setzt große Anstrengungen voraus. Es setzt in der Tat voraus, dass man sich gegenseitig zuhört und sich versteht und dann auch gemeinsam entscheiden kann.

Frage: Herr Bundeskanzler, Europa fragt sich, wer in Deutschland bei der Außenpolitik und in wichtigen europäischen Entscheidungen den Ton angibt. Sind Sie es, oder ist es die Außenministerin, zum Beispiel in der Frage der Haltung zu China oder auch der Rechtsstaatlichkeit?

Wie wollen Sie die außenpolitische Haltung auch im europäischen Kontext einbinden? Es gibt ja die Vorstellung, da mehr zu einer qualitativen Mehrheitsentscheidung hinzugehen. Haben Sie schon irgendeine Idee, wie Sie Ihre europäischen Partner überzeugen können?

Herr Ratspräsident, wollen Sie, dass Deutschland in außenpolitischen Fragen selbstbewusster zum Beispiel gegenüber China oder anderen Partnern auftritt, selbstbewusster vielleicht als unter Angela Merkel?

Ist es im Übrigen richtig, dass Sie dem chinesischen Präsidenten im Namen von Herrn Scholz mitgeteilt haben, dass sich die deutsche Politik China gegenüber nicht so sehr ändern wird, wie wir das vor Kurzem in den Medien lesen konnten?

BK Scholz: Die deutsche Regierung handelt einheitlich und gemeinsam. Das gehört sich so; das ist aber auch gut. Deshalb werden wir das auch miteinander tun. Wir haben unsere Politik miteinander besprochen und werden auf dieser Grundlage gut handeln können. Da ist es ein ganz besonderes Zeichen, dass dies eine Regierung aus drei Parteien ist, die sicherlich als entschieden proeuropäisch verstanden werden können und sich auch in diesem Sinne begreifen.

Wir wissen, dass Deutschland als großes Land mitten in der Europäischen Union eine besondere Aufgabe hat. Wir können nicht am Rande stehen und schlecht gelaunte oder gut gelaunte Kommentare zum Geschehen abgeben, sondern wir müssen mittendrin mit der großen wirtschaftlichen Kraft, die Deutschland mit der großen Bevölkerung hat, dafür Sorge tragen, dass der Fortschritt und die Zukunft in Europa gelingen. So verstehen wir uns auch. Das ist etwas ganz Besonderes. Das muss etwas sein, das uns eint: die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, die Regierung. Ich denke, in dieser Frage sind wir uns auch einig und können gemeinsam dieser Verantwortung gerecht werden. Das wollen wir auch tun.

Ansonsten ist es so, dass wir wissen, dass für die Welt, in der wir künftig leben, eine starke souveräne Europäische Union von größter Bedeutung ist. Sie wird nicht so bipolar, wie manche spekulieren. Davon bin ich fest überzeugt. Es wird eine Welt mit vielen Mächten sein. Multipolar wird sie also auf alle Fälle. Da sind dann nicht nur - wie schon lange - die USA und Russland, sondern eben auch China, aber auch viele andere Nationen des wiederaufgestiegenen Asiens: Korea, Japan, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Indien. Es wird starke Nationen aus Afrika und dem Süden Amerikas geben. In dieser Welt dafür zu sorgen, dass sie zusammenarbeiten, dass eine multilateral inspirierte Politik betrieben wird, ist das, was uns verbindet und was auch die Perspektive der Europäischen Union in dieser Welt sein wird.

Klar ist dabei, dass wir uns besonders denjenigen verbunden wissen, die, wie wir auch, die Demokratie und den Rechtsstaat hochhalten. Das sind viele Länder der Welt, aber eben nicht alle. In dieser Welt wird es auch darauf ankommen, ordentliche Beziehungen zu den Völkern zu haben, die diesen Weg noch nicht entschieden oder durchgesetzt haben - es ist ja auch deren Angelegenheit, welchen Weg sie gehen -, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ein friedliches Miteinander möglich ist. Das wird nicht einfach. Aber das ist die Aufgabe, und wir sollten sie auch anpacken.

P Michel: Ich meine wirklich, dass diese sehr starke Botschaft - das heißt, ein souveräneres Europa, mehr europäische Souveränität - eine sehr schlagkräftige Botschaft ist. Ich halte als gemeinsames Ziel für wesentlich, gemeinsam mit den 27 Mitgliedstaaten gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, welche Instrumente wir nutzen können, um einen positiven Einfluss in der Welt ausüben zu können und weniger abhängig zu sein.

Ich darf auch noch hinzufügen: Wir sollten daran arbeiten, auch deutlich zu machen, welche Beziehungen wir zum Rest der Welt anstreben. Das wird das Ziel beim nächsten Gipfeltreffen zwischen der EU und der Afrikanischen Union in Brüssel im Februar sein.

Es sind auch gemeinsame Ziele, wenn wir mit allen Mitgliedstaaten daran arbeiten, auch die transatlantischen Bande zu stärken, die so nicht nur für unseren Wohlstand, sondern auch für unsere Sicherheit so wichtig sind. Es sind auch gemeinsame Ziele, wenn wir hier an einem Strang ziehen, um auszuweisen, wie die Zukunft Europas im Indopazifikraum aussieht, welche Partnerschaften wir da entwickeln können, natürlich gestützt auf die Konnektivität, um hier Platz zu greifen und unsere Werte zu fördern und zu verbreiten. Da haben wir eine Stärke, die die EU ausspielen kann, wenn es uns gelingt, andere Länder in der Welt ins Boot zu holen, um früher oder später Standards einzuhalten, die durch unsere Werte inspiriert werden. Wir sollten das in der Zukunft verstärkt anpacken und alle gemeinsam zusammenarbeiten, um in Erfahrung zu bringen, ob es nicht möglich ist, geopolitisch im Rest der Welt einen stärkeren Einfluss auszuüben, auch anhand der wirtschaftlichen Macht, über die wir in Europa verfügen.

Freitag, 10. Dezember 2021
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German Federal Government published this content on 10 December 2021 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 10 December 2021 19:41:04 UTC.