Von Laurence Norman und Max Colchester

LONDON/PRAG (Dow Jones)--Nach jahrelangen Spannungen verfolgt Großbritannien eine neue Strategie gegenüber seinen EU-Nachbarn. Es will nett sein. In den Jahren nach dem Brexit-Votum 2016 wurde das Ringen mit der EU als ein Übergangsritual für jeden Anführer der Konservativen Partei angesehen. Doch in den vergangenen Wochen hat die neue Premierministerin Liz Truss eine Wende eingeläutet, die Brüssel und viele Konservative überrascht.

"Wir wollen, dass unsere Beziehungen zur EU funktionieren", sagt der britische Außenminister James Cleverly. Gerade beteiligte sich Truss an der Eröffnungssitzung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) in Prag. Die Briten nehmen außerdem die Gespräche mit der EU über die seit langem umstrittenen Handelsvereinbarungen für Nordirland nach dem Brexit wieder auf. Und das Außenministerium hat König Charles III. mitgeteilt, dass sein erster Staatsbesuch in Frankreich stattfinden soll, wie aus dem Palast verlautet.


Entschuldigung von Brexiteer 

Steve Baker, ein konservativer Abgeordneter, der die Brexit-Fraktion im Parlament anführte und jetzt Nordirland-Minister ist, entschuldigte sich sogar für sein Verhalten in der Vergangenheit, um die Aussichten auf eine Einigung über das Gebiet zu verbessern. "Ich und andere haben sich nicht immer so verhalten, dass Irland und die EU uns vertrauen konnten."

Hinter dem neuen Ansatz steht sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Realität. Großbritannien, das sich wahrscheinlich auf eine Rezession zubewegt, möchte den Investoren versichern, dass ein Handelskrieg mit der EU nicht zu befürchten ist. Das Land will auch US-Bedenken zerstreuen. Diese entstanden durch die Drohung Großbritanniens, das Abkommen aufzukündigen, welches Bedingungen wie eine Zollgrenze zwischen der britischen Insel und Nordirland regelt. Und der Krieg in der Ukraine hat den europäischen Nachbarn noch mehr Auftrieb gegeben, eine gemeinsame Front gegen Russland zu bilden.


Knackpunkt Nordirland-Abkommen 

Es bleibt derweil unklar, wie lange die wärmeren Beziehungen andauern. Europäische und britische Beamte warnen davor, dass die Gelegenheit für einen Neustart leicht verpasst werden könnte, da die Spannungen im Zusammenhang mit dem Brexit-Deal nach Meinung von Analysten immer noch schnell auftauchen könnten.

Erst in diesem Sommer, während des Wahlkampfs der Konservativen, stellte Truss die Frage, ob der französische Präsident Emmanuel Macron ein Freund oder ein Feind sei. Und sie schien seine neue Idee einer EPG abzutun, die eine Plattform für Staats- und Regierungschefs schafft, um gemeinsame Themen ohne die Bürokratie oder Regeln der EU zu diskutieren.

Macron antwortete, Großbritannien sei ein enger Freund Frankreichs, "manchmal trotz seiner Anführer". Die beiden trafen sich in New York, nachdem Truss Anfang September ihr Amt angetreten hatte. Beide Seiten drohen einander immer noch gegenseitig mit rechtlichen Schritten. Und Beamte sagen, dass eine Lösung für die politisch umstrittene Frage der Handelsvereinbarungen für Nordirland nach dem Brexit äußerst komplex sei, selbst wenn der politische Wille vorhanden ist.


Handelskrieg soll vermieden werden 

Beide Seiten sind jedoch bestrebt, eine tiefere Spaltung oder einen potenziell kostspieligen Handelskrieg zu vermeiden, da der Konflikt in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die europäische Energieversorgung sowie Wirtschaft die Tagesordnung beherrschen.

Die Entscheidung von Truss, an dem Treffen in Prag teilzunehmen, an dem die 27 EU-Mitglieder und 17 Nicht-EU-Länder, darunter die Ukraine, aber nicht Russland, teilnehmen, wurde in den kontinentaleuropäischen Hauptstädten als ein wichtiges Signal gesehen. Auf das erste EPG-Treffen sollen alle sechs Monate weitere Gipfel folgen, so Macron. Britische Beamte hatten erklärt, sie seien an der Ausrichtung der Veranstaltung interessiert. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich darauf, dass nach Treffen in Moldawien und Spanien Großbritannien die Veranstaltung ausrichtet, so ein hoher EU-Beamter.

Während der mehrwöchigen Diskussionen wichen britische Beamte im Vorfeld der Frage aus, ob Truss teilnehmen würde. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Veranstaltung nicht von der EU dominiert würde und Themen wie illegale Einwanderung behandelt würden, die die neue Regierung unbedingt besprechen möchte. Sie drängten sogar - erfolglos - auf eine Namensänderung.


Ukraine-Krieg vereint die EPG 

Der Hauptgrund für die Entscheidung von Truss, an der Konferenz teilzunehmen, war jedoch die Ukraine und der Wunsch, eine geeinte kontinentale Front zu zeigen, so die offiziellen Stellen. "Europa steht vor seiner größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Und wir haben uns ihr gemeinsam mit Einigkeit und Entschlossenheit gestellt", äußerte sich die britische Regierungschefin laut ihrem Büro. "Wir müssen weiterhin standhaft bleiben - um sicherzustellen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, aber auch um die strategischen Herausforderungen zu bewältigen, die er mit sich bringt."

Die Entscheidung von Truss, an dem Treffen teilzunehmen, wurde in Brüssel und Paris begrüßt. Für die EU und die Tschechen, die das Treffen gemeinsam ausrichteten, verlieh sie dem Gipfel ein Gewicht außerhalb der EU und stärkt die Botschaft zum Krieg. Großbritannien hat eine führende Rolle bei der Bereitstellung von Militärhilfe für Kiew gespielt. Das Land hat seine Präsenz an der Ostflanke der Nato verstärkt und Sanktionen sowie finanzielle Unterstützung für die Ukraine sowohl mit der EU als auch mit Washington abgestimmt.

"Wir teilen denselben Kontinent und stehen vor denselben Herausforderungen", rief EU-Ratspräsident Charles Michel aus. "Die Tatsache, dass die 44 eingeladenen Länder beschlossen haben, daran teilzunehmen, ist ein erstes wichtiges Signal."


Annäherung an Frankreich und den "Feind" Macron 

In Prag hatte Truss bilaterale Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Macron, den beiden mächtigsten Politikern der EU. Nach dem Treffen mit Macron gaben Großbritannien und Frankreich eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie sich zur Vertiefung ihrer Zusammenarbeit in den Bereichen Ukraine, Kernenergie und illegale Migration verpflichteten. Sie kündigten einen britisch-französischen Gipfel für 2023 an, "um eine erneuerte bilaterale Agenda voranzubringen".

Macron sagte nach dem Treffen, es sei eine "sehr gute Nachricht", dass Truss nach Prag gekommen sei und dass Großbritannien sich an gemeinsamen Initiativen mit seinen europäischen Nachbarn beteiligen wolle. "Ich hoffe, dass dies eine neue Phase unserer gemeinsamen Beziehungen ist, dass dies der Beginn des Tages danach ist."


Rüffel vom Weißen Haus an den Briten 

Die eigentliche Bewährungsprobe wird jedoch in den kommenden Wochen bei den Verhandlungen darüber anstehen, wie die Bedingungen des Brexit-Scheidungsvertrags in Nordirland angewendet werden sollen. Einige britische Minister haben angedeutet, dass sie eine Einigung innerhalb von Wochen anstreben, aber Beamte in Brüssel sind der Meinung, dass ein Durchbruch, falls möglich, Monate dauern könnte.

Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU stimmte die konservative Regierung zu, eine Zollgrenze im eigenen Land zu errichten, und zwar zwischen Großbritannien und der Provinz Nordirland. Damit sollte vermieden werden, dass das Karfreitagsabkommen von 1998 durch eine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, die zur EU gehört, in Frage gestellt wird.

Die britische Regierung hat seitdem versucht, den Vertrag zu ändern, nachdem sich pro-britische Gruppen in Nordirland beschwert hatten, sie fühlten sich vom Rest des Landes abgeschnitten. So weigert sich die Democratic Unionist Party (DUP) in der nordirischen Versammlung zu sitzen, bis die Angelegenheit geklärt ist.

In ihrer Amtszeit als Außenministerin brachte Truss ein Gesetz ein, über das derzeit im Parlament abgestimmt wird und das es den Briten ermöglichen würde, Teile des Brexit-Abkommens einseitig zu ändern. Und diese Drohung, einen internationalen Vertrag in Stücke zu reißen, hat Kritik aus dem Weißen Haus hervorgerufen, das die Briten an sich als wichtigen Verbündeten sehen.

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October 07, 2022 05:26 ET (09:26 GMT)