BERLIN (dpa-AFX) - Rund zwei Jahre und vier Monate nach den tödlichen Schüssen auf einen Georgier tschetschenischer Abstammung in Berlin neigt sich der Prozess dem Ende zu. Seit mehr als einem Jahr geht das Kammergericht in Berlin der Frage nach, ob der 40-Jährige Opfer eines staatlichen Auftragsmordes geworden ist. Am Dienstag, dem 53. Prozesstag, könnte nun die Beweisaufnahme geschlossen werden und der Vertreter des Generalbundesanwalts (GBA) ein Plädoyer halten. Noch vor Weihnachten könnten dann die Richter nach bisheriger Planung ein Urteil im sogenannten Tiergartenmord-Prozess sprechen. Es könnte die deutsch-russischen Beziehungen erschüttern - ausgerechnet kurz nach dem Amtsantritt einer neuen Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz.

Denn die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte von "staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" beauftragt worden war. Hintergrund sei "die Gegnerschaft des späteren Opfers zum russischen Zentralstaat, zu den Regierungen seiner Autonomen Teilrepubliken Tschetschenien und Inguschetien sowie zu der pro-russischen Regierung Georgiens". Wegen des vermuteten politischen Hintergrundes hatte die höchste deutsche Anklagebehörde die Ermittlungen übernommen.

Sollte das Gericht in seinem Urteil der Anklage folgen, wäre eine Reaktion der Bundesregierung wohl unausweichlich. "Für den Fall, dass es entsprechende Feststellungen in diesem Urteil gibt, muss man damit rechnen, dass wir darauf auch noch einmal reagieren werden", hatte Außenminister Maas im vergangenen Jahr bei einem Besuch in Moskau angekündigt.

Erste Konsequenzen hatte die Bundesregierung schon gezogen, nachdem der Generalbundesanwalt vor zwei Jahren die Ermittlungen aufgenommen hatte und der russischen Regierung mangelnde Kooperation vorwarf. Zwei Mitarbeiter der russischen Botschaft in Berlin wurden deswegen ausgewiesen, was den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf einer Pressekonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel in Paris zu einem regelrechten Wutausbruch veranlasste. Er nannte den ermordeten Georgier, der in der russischen Teilrepublik Tschetschenien auf Seiten der Separatisten gekämpft haben soll, einen "Banditen" und "Mörder".

Seit Oktober 2020 läuft der Prozess nun vor einem Staatsschutzsenat des Berliner Gerichts unter strengen Sicherheitsvorkehrungen im Hochsicherheitssaal. Angeklagt ist ein 56 Jahre alter Russe. Er soll sich am 23. August 2019 auf einem Fahrrad dem Opfer, das seit Ende 2016 als Asylbewerber in Deutschland lebte, in der Berliner Parkanlage Kleiner Tiergarten genähert haben. Aus nächster Nähe soll er dann mit einer Schalldämpfer-Pistole den Mann erschossen haben. Der 40-Jährige starb am Tatort. Er war von russischen Behörden als Terrorist eingestuft worden.

Der mutmaßliche Täter wurde noch am selben Tag gefasst und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Er soll erst kurz vor der tödlichen Attacke mit Alias-Namen nach Deutschland gekommen sein. Der Beschuldigte selbst hatte zu Beginn des Prozesses über seine Anwälte erklären lassen, er heiße Vadim S., sei 50 Jahre alt und Bauingenieur. Zudem bestritt er Verbindungen zum russischen Staat und dem Geheimdienst FSB.

Die Klärung der Identität des Angeklagten stand im Fokus der vergangenen 52 Verhandlungstage. Denn es gilt die Richter auch davon zu überzeugen, dass der dunkelhaarige, kräftige Mann tatsächlich der angeklagte 56 Jahre alte Russe ist, dem weitere Auftragsmorde im Ausland zugeordnet werden.

Die Beweisaufnahme im Prozess war schwierig - und umfangreich: 47 Zeugen sagten - teils wiederholt - aus, wie Gerichtssprecherin Lisa Jani sagte. Dazu gehörten auch Journalisten des Recherchenetzwerks Bellingcat und der russischen Investigativplattform "The Insider", die zahlreiche Details zum Agieren der Sicherheitsbehörden und zum Hintergrund des Angeklagten nannten. Zehn Sachverständige wurden gehört, darunter Gutachter für Gesichtsbildvergleiche zur Klärung der Identität des Angeklagten.

Zudem schauten sich der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi und seine Kollegen etliche Urkunden, Fotos und Videos an. Wegen zahlreicher Nachermittlungen wuchs der Umfang der Akten von anfangs etwa 50 Ordnern auf mittlerweile 73 - dazu kommt noch eine große Anzahl elektronischer Datenträger. Und es gibt zahlreiche internationale Bezüge, so dass viele Rechtshilfeersuchen gestellt werden mussten, wie Sprecherin Jani schilderte.

Sollte dass Gericht es als erwiesen ansehen, dass der Angeklagte einen Auftrag zum Töten aus Moskau bekam, hätten es der designierte Kanzler Olaf Scholz (SPD) und seine designierte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit einer ersten massiven diplomatischen Krise zu tun. Die Ausweisung weiterer Botschaftsmitarbeiter wäre möglich oder auch andere Sanktionen, eventuell gemeinsam mit europäischen Partnern.

Und es würden sich wohl wieder diejenigen bestärkt fühlen, die den Betrieb der Gas-Pipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland verhindern wollen - allen voran Baerbock. Insofern könnte eine Krise mit Russland auch zu einer ersten außenpolitischen Nagelprobe für die Ampel-Koalition werden./mvk/DP/zb