Das Risiko abzusteigen hat in den vergangenen Jahren vor allem in der unteren Mittelschicht zugenommen, wie am Mittwoch aus einer Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Gefährdet seien jene mit einem verfügbaren Einkommen zwischen 75 und 100 Prozent des mittleren Einkommens. Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent dieser Gruppe im erwerbsfähigen Alter (18 bis 64 Jahre) laut Studie in die untere Einkommensschicht und waren damit arm oder von Armut bedroht. "Wer in Deutschland einmal aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute deutlich schwerer, wieder aufzusteigen", erklärte Valentina Consiglio, Mit-Autorin und Arbeitsmarktexpertin der Bertelsmann Stiftung.

Der Zugang zur Mittelschicht hat sich demnach deutlich verschlechtert. Zählten 1995 noch 70 Prozent der Bevölkerung dazu, waren es 2018 nur noch 64 Prozent. Zwar habe der wesentliche Rückgang bis 2005 stattgefunden, doch die Mitte habe sich seither nicht wieder erholt, obwohl die deutsche Wirtschaft zwischen Finanz- und Corona-Krise durchschnittlich um rund zwei Prozent stetig gewachsen und die Arbeitslosigkeit gesunken sei.

OECD-Generalsekretär Mathias Cormann erklärte, in Deutschland und anderen OECD-Staaten sei die Mittelschicht unter Druck geraten. "In Gesellschaften mit einer starken Mittelschicht gibt es mehr soziales Vertrauen, bessere Bildungsergebnisse, mehr gesunde Menschen und eine höhere Lebenszufriedenheit." Deshalb sei es wichtig, dass Arbeitskräfte ihre Fähigkeiten und Kompetenzen stärkten und dass gute Jobs entstünden. Dann würden auch die verfügbaren Einkommen steigen.

Im Vergleich mit 25 weiteren Ländern der Industriestaaten-Gruppe OECD schrumpfte die Mittelschicht nur in Schweden, Finnland und Luxemburg stärker als in Deutschland. Junge Leute waren davon in der Bundesrepublik besonders betroffen: Der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die zur Einkommensmitte gehören, sank mit zehn Prozentpunkten überdurchschnittlich stark. Das zeigt auch der Generationenvergleich: Während es noch 71 Prozent der Babyboomer (Jahrgänge 1955 bis 1964) nach dem Start ins Berufsleben in die Mittelschicht schafften, gelang dies nur noch 61 Prozent der sogenannten Millenials (1983 bis 1996). Bildung wird dabei immer wichtiger. Denn der Anteil der 25- bis 35-Jährigen mit niedrigem oder mittlerem Bildungsniveau, die es in die Mittelschicht schaffen, sank deutlich. "Bildungsrückstände, die durch die Pandemie entstanden sind, müssen dringend aufgeholt werden, sonst wird vielen der mühsame Aufstieg in die Mittelschicht zusätzlich erschwert", warnte Consiglio.

Um die Mittelschicht zu stärken, fordern OECD und Bertelsmann Stiftung etwa dazu auf, Barrieren auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. So müssten Teilzeitarbeiter und Minijobber mehr Chancen auf Weiterbildung bekommen. Zudem sollten Umfang und Qualität der Jobs von Frauen verbessert werden. Auch müssten in Berufen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, wie in der Pflege, höhere Löhne gezahlt werden.

Zur Mittelschicht zählen laut Studie alle, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dies gelte für Alleinstehende bei einem verfügbaren Einkommen von rund 1500 bis 4000 Euro, bei einem Paar mit zwei Kindern zwischen 3000 und 8000 Euro.