Antakya (Reuters) - Drei Tage nach dem schweren Erdbeben an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei mit über 17.000 Toten schwinden die Hoffnungen auf die Rettung Überlebender.

Zwar wurde am Donnerstag noch live im türkischen Fernsehen gezeigt, wie eine 60-Jährige lebend aus den Trümmern eines Wohnhauses geborgen wurde. Doch für viele Verschüttete auch in Syrien dürfte bald jede Hilfe zu spät kommen. In beiden Ländern verbrachten viele Menschen bei Minustemperaturen die Nacht erneut im Freien oder in ihren Autos, weil ihre Häuser zerstört sind oder noch einzustürzen drohten. Der Unmut über das Katastrophenmanagement wächst, was in der Türkei auch Auswirkungen auf die für den 14. Mai geplanten Präsidenten- und Parlamentswahl haben könnte. Es wurden Zweifel laut, ob die Abstimmung überhaupt stattfinden kann.

Laut dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist die Zahl der Toten in seinem Land auf über 14.000 gestiegen. Mehr als 63.000 Menschen seien verletzt worden. In Syrien sind es nach Angaben der Regierung sowie von Rettungsdiensten in den von Rebellen kontrollierten Gebieten mehr als 3000 Todesopfer.

Einige wenige Überlebende konnten noch gerettet werden, wie bis Mittwochabend auf verschiedenen Videoaufnahmen aus der Türkei zu sehen war. So auch ein Mann, der seit Montag unter den Trümmern seines Hauses neben seiner verstorbenen Frau ausgeharrt hatte. Doch für viele andere gibt es kaum noch Hoffnung. Zur Verzweiflung der Angehörigen ist es mitunter auch nicht möglich, Verschüttete zu bergen, obwohl ihre Hilferufe zu hören sind. In der Türkei kritisieren bereits viele den Mangel an Ausrüstung, Fachwissen und Unterstützung.

DIREKTE KRITIK AN PRÄSIDENT ERDOGAN

"Wo ist der Staat? Wo waren sie in den vergangenen zwei Tagen", klagte ein Frau, die in der Stadt Malatya nahe den schneebedeckten Trümmern eines Gebäudes ausharrte, unter denen ihre Familienmitglieder eingeschlossen sind. Die Kritik vieler Türken richtete sich auch direkt an Präsident Erdogan. Bei einem Besuch im Katastrophengebiet betonte Erdogan am Mittwoch, dass die Bergungsarbeiten inzwischen liefen und niemand obdachlos bleiben werde. Erdogan räumte ein, dass es zunächst Probleme mit den Straßen und auf den Flughäfen gegeben habe.

Wenn die Öffentlichkeit der Regierung Versagen beim Krisenmanagement vorwirft, könnte dies Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl schmälern. Umgekehrt verweisen Beobachter darauf, dass Erdogan die Türken aber auch in der Krise hinter sich vereinen könnte. Ein Regierungsvertreter sagte jedoch, dass es noch zu früh sei, überhaupt über die Wahl zu sprechen. Schließlich lebten 15 Prozent der Türken in den vom Beben betroffnen Gebieten. "Im Moment gibt es sehr ernste Schwierigkeiten, wie geplant am 14. Mai eine Wahl abzuhalten."

ÜBER 23 MILLIONEN IN SYRIEN UND DER TÜRKEI BETROFFEN

Das Beben hat nach Schätzungen der türkischen Regierung rund 13,5 Millionen Menschen getroffen - in einem Gebiet, das von Adana im Westen bis Diyarbakir im Osten reicht. Mitten im Winter wurden Hunderttausende Menschen obdachlos. In Syrien sind laut den Vereinten Nationen (UN) fast 10,9 Millionen Menschen unter anderem in Hama, Latakia, Idlib und Aleppo vom Beben betroffen - eine Region, die bereits besonders unter den nunmehr fast zwölf Jahren Bürgerkrieg gelitten hat.

"Die Zahl der Toten und Verletzten dürfte noch sehr stark steigen, weil viele Familien noch unter eingestürzten Gebäuden liegen", sagte der Chef der Rettungsdienste im Nordwesten Syriens, Raed Saleh, am Donnerstagmorgen der Nachrichtenagentur Reuters. Es sei noch keine Hilfe angekommen. "Wir warten darauf, dass heute welche eintrifft."

Nach Informationen aus Kreisen des Grenzschutzes hat am Donnerstag ein UN-Hilfskonvoi Syrien erreicht. Der Konvoi habe den Übergang Bab al Hawa überquert. Es handelte sich um die erste solche Lieferung seit dem Beben. Durch die Schäden infolge der Erdstöße blieb auch die reguläre UN-Hilfe aus, von der im Nordwesten Syriens vier Millionen Menschen abhängig sind. Derzeit ist nur ein Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien geöffnet. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verlangte im WDR, weitere Übergänge zu öffnen.

Der UN-Sondergesandte Geir Pedersen forderte zu umfassenden Hilfslieferungen auf. Die vom Beben betroffenen Menschen benötigten so gut wie alles, betonte Pedersen in Genf. Er mahnte, dass keine politischen Hindernisse der Hilfslieferung im Weg stehen dürften.

(Mitarbeit von weiteren Reuters-Reportern und Reporterinnen in der Türkei, in Syrien und Jordanien, im Libanon und der Schweiz; Geschrieben von Elke Ahlswede, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

- von Umit und Bektas und Mehmet und Caliskan und Khalil Ashawi