MAIDSTONE (dpa-AFX) - Wenige Stunden vor dem letzten und möglicherweise entscheidenden TV-Duell der Spitzenkandidaten im britischen Wahlkampf ist Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei in die Offensive gegangen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung stellte Corbyn am Freitag ein durchgesickertes Regierungsdokument vor, das die Glaubwürdigkeit von Premierminister Boris Johnson (Konservative) in Sachen EU-Austritt infrage stellen soll.

Entgegen der Behauptung Johnsons geht daraus hervor, dass auch mit seinem Brexit-Abkommen künftig Warenkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs stattfinden müssen. Der Regierungschef weist das zurück.

Corbyn und Johnson treffen an diesem Freitag in einem TV-Duell aufeinander. Weniger als eine Woche vor der Parlamentswahl am 12. Dezember gilt das Duell im BBC-Fernsehen (21.30 Uhr MEZ) als letzte Chance für den Labour-Chef, das Ruder noch einmal herumzureißen. Johnsons Konservative führen in den Umfragen mit großem Abstand vor den Sozialdemokraten. Die beiden müssen sich in der einstündigen Sendung Fragen aus dem Publikum stellen.

Wichtigstes Thema im Wahlkampf ist der geplante Brexit. Johnson will das Land mit seinem neu verhandelten Austrittsabkommen zum 31. Januar 2020 aus der Europäischen Union führen. Dafür braucht er eine stabile Mehrheit. Seine Vorgängerin Theresa May war mit ihrem Abkommen drei Mal im Parlament gescheitert.

Corbyn will dagegen den Austritt noch einmal verschieben und innerhalb von drei Monaten ein neues Abkommen mit Brüssel aushandeln. Ihm schwebt ein Brexit mit sehr enger Bindung an die EU vor. Seinen Deal will er den Briten in einem Referendum zur Abstimmung vorlegen. Die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft. Corbyn selbst will dabei neutral bleiben. Labour hat kaum Aussichten auf eine eigene Mehrheit und müsste darauf hoffen, nach der Wahl mithilfe von kleineren Parteien eine Minderheitsregierung bilden zu können.

Das zweite wichtige Thema im Wahlkampf lautet Gesundheit. Beide Politiker versprechen massive Investitionen in den maroden Nationalen Gesundheitsdienst (NHS). Geplagt werden sowohl Corbyn als auch Johnson zudem von Antisemitismus- und Rassismusvorwürfen. Dem Labour-Chef wird seit langem vorgehalten, antisemitischen Tendenzen in seiner Partei nicht entschieden genug entgegenzutreten. Einige halten ihn sogar selbst für antisemitisch. Johnson sieht sich immer wieder dem Vorwurf des Rassismus und der Islamophobie ausgesetzt.

Eine Woche nach dem Anschlag bei der London Bridge dürfte auch das Thema vorzeitige Haftentlassungen eine Rolle spielen. Der Attentäter Usman Khan hatte am 29. November zwei Menschen erstochen und drei verletzt, bevor er auf der London Bridge von Zivilisten überwältigt und von der Polizei erschossen wurde. Er trug eine Sprengstoffgürtel-Attrappe. Der wegen früherer Anschlagspläne bereits verurteilte Terrorist war vor einem Jahr auf Bewährung vorzeitig entlassen worden. Johnson forderte umgehend härtere Strafen für Gewalt- und Schwerverbrecher. Corbyn äußerte sich zurückhaltender.

In Sachen Glaubwürdigkeit will auch der BBC-Moderator Andrew Neil Johnson auf den Zahn fühlen. Sein von der britischen Rundfunkanstalt per Twitter verbreiteter Aufruf an den Premier, sich einem Interview zu stellen, ging am Freitag viral. Das Video wurde bis zum Nachmittag 5,5 Millionen Mal angesehen. Neil gilt als härtester Interviewer in Großbritannien und wird oft als "chief attack dog" (oberster Kampfhund) der BBC bezeichnet. Johnson weigert sich aber bisher.

Zudem könnten Johnson Sorgen um seine eigene Wiederwahl im Wahlkreis Uxbridge and South Riuslip umtreiben. Aktivisten wollen genügend Wähler mobilisieren, um ihm dort sein Mandat streitig zu machen. Der Tory-Politiker gewann bei der vergangenen Wahl 2017 nur mit einer knappen Mehrheit von rund 5000 Stimmen.

In einem offenen Brief riefen am Donnerstag Dutzende proeuropäische Organisationen die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, auf, ihre Kandidatin für den Wahlkreis zurückzuziehen und Labour zu unterstützen. Im Gegenzug sollten die Sozialdemokraten nicht mehr im Wahlkreis von Außenminister Dominic Raab, Esher and Walton, antreten. Dort haben die Liberaldemokraten Chancen auf Erfolg. Beide Parteien wollen ein zweites Referendum über den EU-Austritt erreichen.

In Johnsons Wahlkreis sind seit Wochen Aktivisten unterwegs, um junge Wähler zu mobilisieren. Bei einer Rave-Party Mitte November in den Straßen von Uxbridge riefen sie die Menschen dazu auf, sich für die Wahl registrieren zu lassen. Dahinter steht eine Initiative mit dem Namen "Fck Boris", die vor allem von jungen Frauen mit afrikanischem und asiatischem Migrationshintergrund getragen wird./cmy/DP/men