--17 europäische Wissenschaftler fordern konsequente No-Covid-Strategie

--Fuest: 80 Prozent der Konsumverluste nicht auf Lockdown-Maßnahmen zurückzuführen

--Gruppe will aber Kolleralschaden für die Wirtschaft verhindern

(NEU: Statements Ifo-Präsident Fuest, weitere Zitate)

Von Petra Sorge

BERLIN (Dow Jones)--Das Münchner Ifo-Institut hat sich dem Ruf von Wissenschaftlern aus ganz Europa nach einem härteren Lockdown zur Bekämpfung des Coronavirus angeschlossen. "Entschlossenes und koordiniertes europäisches Vorgehen gegen die Pandemie ist wegen der engen grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung in Europa auch aus ökonomischer Sicht erforderlich", erklärte der Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, Andreas Peichl. Er ist Teil einer Autorengruppe, die im britischen Medizin-Fachjournal "The Lancet" eine rasche Verringerung der Fallzahlen in allen europäischen Ländern fordern und sich damit der No-Covid-Bewegung anschließen.

Ifo-Präsident Clemens Fuest betonte, er halte "dieses Papier für sehr wichtig und unterstütze das ganz ausdrücklich". Dazu verwies er auf Studien aus dem frühen Status der Infektionen, wonach etwa 80 Prozent der Konsumverluste nicht auf die Lockdown-Maßnahmen, sondern das Vorhandensein der Pandemie selbst zurückzuführen seien. "Selbst wenn das Kino also öffnet, gehen die Menschen nicht hin, weil das Virus noch da ist", sagte Fuest bei einer Online-Pressekonferenz. "Sie können die Wirtschaft nicht retten, indem sie trotz Infektionen einfach öffnen."


   Abgrenzung von der "Zero Covid"-Bewegung 

Zu der 17-köpfigen multinationalen Verfassergruppe unter Leitung der Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen gehören auch Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der Soziologe Armin Nassehi oder der Wiener Gesundheitsökonom Thomas Czypionka.

Die "No Covid"-Gruppe grenzte sich jedoch klar von den "Zero Covid"-Aktivisten ab, die für die Ausrottung des Virus einen totalen Lockdown der Wirtschaft fordert. "Das ist überhaupt nicht nötig und wäre auch ein Kolleralschaden für die Wirtschaft", sagte Virologin Brinkmann. "Wir brauchen einen klügeren und effizienteren Lockdown, um das Ziel zu erreichen." Dies sei realistisch, sofern die Bevölkerung mitmache.

Konkret fordern die Lancet-Autoren, die Zahl der Ansteckungskontakte zwischen den Menschen zu verringern, zum Beispiel Homeoffice und Online-Unterricht zu verbessern. "Kleine, stabile soziale Blasen" und stabile Gruppen zu Hause und am Arbeitsplatz sollten gegenüber ständig wechselnden Kontakten bevorzugt werden.

Auch müsse der Reiseverkehr innerhalb von Staaten und über die Landesgrenzen hinweg auf das Nötigste verringert werden. Tests und Quarantäne sollten von grenzüberschreitenden Reisenden verlangt werden, Tests 24 Stunden vor der Reise und sieben bis zehn Tage nach der Reise. Dazu brauche es deutlich mehr Koordinierung in Europa. Zudem empfehlen die Autoren eine Strategie der "grünen Zonen", in denen mehr Bewegungsfreiheit möglich wäre, und bei lokalen Ausbrüchen eine massive örtliche Eindämmung. Wenn jedes Land das Ziel der niedrigen Fallzahlen verfolgt, "dann profitieren alle Nachbarländer", sagte Physikerin Priesemann.


   Brinkmann: Lockerungen ab einer Inzidenz von 10 möglich 

Als eine Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnern, ab der wieder an Lockerungen zu denken sei, sei 10 "eine gute Zahl", sagte Brinkmann. Um das zu erreichen, sollten aus Sicht der Autoren kostenlose Tests an Schulen und Arbeitsplätzen angeboten werden, um Ausbrüche frühzeitig zu erkennen und Menschen zu schützen. Die Testkapazitäten müssten erhöht werden, um die Nachfrage zu decken. Eine Überwachung des Abwassers müsse genutzt werden, um örtliche Ausbrüche zu erkennen. Schließlich sollten auch mehr Abstriche auf die neuen Sars-CoV-2 Varianten überprüft werden.

Außerdem müssten der Schutz und die Unterstützung von älteren Menschen und gefährdeten Gruppen verbessert werden. Niedrige Fallzahlen und insbesondere eine niedrige Dunkelziffer verringerten die Risiken der Einschleppung deutlich. Impfungen müssten beschleunigt und die Produktion von Impfstoffen erhöht werden. Auch unter Geimpften müssten Ansteckungen überwacht werden, um eine mögliche Neuansteckung mit neuen Varianten so schnell wie möglich zu erkennen.

Kontakt zur Autorin: petra.sorge@wsj.com

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January 28, 2021 07:31 ET (12:31 GMT)