Karlsruhe (Reuters) - Die Schuldenaufnahme der Europäischen Union zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

Der Beschluss der EU zur Kreditaufnahme von insgesamt 750 Milliarden Euro "stellt keine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms dar und beeinträchtigt auch nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages", begründete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil am Dienstag. Mit der Entscheidung wiesen die Karlsruher Richter zwei Verfassungsbeschwerden unter anderem des Wirtschaftsprofessors und früheren AfD-Politikers Bernd Lucke zurück. Die Karlsruher Entscheidung erging mit 6 zu 1 Stimmen. Verfassungsrichter Peter Müller gab ein Sondervotum ab. (AZ: 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21)

Die europäischen Regierungschefs hatten 2020 einen Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie beschlossen. Mit dem sogenannten Eigenmittelbeschluss wurde die EU-Kommission ermächtigt, bis zu 750 Milliarden Euro an Schulden an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Im März 2021 stimmten CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP zu. Die Ausschüttung begann im Juni 2021. Das Geld wird nach Quoten an die Mitgliedsstaaten verteilt und muss zweckgebunden für Digitalisierungs-, aber auch Klimaschutzprogramme ausgegeben werden. 360 Milliarden werden als Darlehen ausgegeben, rückzahlbar bis 2058. 390 Milliarden sind Zuschüsse, die die Mitgliedsstaaten nicht zurückzahlen müssen.

Die Kläger, unter ihnen Lucke, hatten die Schuldenaufnahme als Kompetenzüberschreitung der EU angegriffen. Der Wiederaufbaufonds "Next Generation EU" stehe außerhalb der EU-Verträge, nach denen die EU nicht zur Kreditaufnahme befugt sei. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Deutschland hafte, wenn Mitgliedsstaaten die Darlehen nicht zurückzahlen könnten.

KEINE KOMPETENZÜBERSCHREITUNG - TROTZ GEWICHTIGER BEDENKEN

Dagegen sah der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz der Vizepräsidentin Doris König keine "offensichtliche Überschreitung" der EU-Kompetenz. Eine solche sei aber Voraussetzung, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz feststelle. Das hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in früheren Urteilen entschieden. Nach diesen Maßstäben stelle der EU-Beschluss "trotz gewichtiger Bedenken" jedenfalls keine offensichtliche Überschreitung der Verträge dar.

Zwar sei die EU nach den Verträgen nicht ausdrücklich ermächtigt, Kredite an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Ein absolutes Verbot gebe es jedoch nicht. Vielmehr komme eine Kreditaufnahme unter bestimmten Voraussetzungen "ausnahmsweise in Betracht." Die Mittel müssten ausschließlich zweckgebunden eingesetzt werden, die Kreditaufnahme zeitlich befristet und in der Höhe begrenzt sein. Weiter dürften die Kredite die eigenen Haushaltsmittel der EU nicht überschreiten. "Dies ist hier der Fall", so das Urteil.

Dennoch formulieren die Karlsruher Verfassungsrichter Zweifel, dass die Kredite alle im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eingesetzt werden. Denn mindestens 37 Prozent der Kredite müssen für den Klimaschutz ausgegeben werden. Beim Klimaschutz sei es fernliegend, dass er mit der Corona-Pandemie in Zusammenhang stehe. Trotz dieser Einwände überschreite das Programm "Next Generation EU" die in den EU-Verträgen festgelegten Kriterien nicht offensichtlich.

Das Risiko einer Haftung Deutschlands, weil andere Mitgliedsstaaten ihre Kredite nicht zurückzahlen können, schätzt der Zweite Senat als gering ein. Zwar scheine die Umgehung des in den EU-Verträgen verankerten Verbot der Schuldenfinanzierung anderer Mitgliedsstaaten "nicht ausgeschlossen". Aber eine Umgehung sei nicht offensichtlich. Der Bundestag sei allerdings gehalten, die Verwendung der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds "fortlaufend zu beobachten und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zum Schutz des Bundeshaushalts zu ergreifen."

Verfassungsrichter Peter Müller gab ein Sondervotum ab, in dem er die Entscheidung der Mehrheit als "nicht nachvollziehbar" kritisierte. Die Schuldenaufnahme von 750 Milliarden Euro stelle zwei Drittel des mehrjährigen Finanzrahmens der EU dar. Die Schuldenaufnahme sei auf eine "grundlegende Veränderung der Finanzarchitektur Europäischen Union" gerichtet und die Verwendung der Mittel spreche für ein Konjunkturprogramm, erklärte der ehemalige saarländische Ministerpräsident. Die Behauptung der Senatsmehrheit, es handele sich bei dem Wiederaufbaufonds um ein einmaliges Instrument und nicht um den Einstieg in eine Transferunion sei "nicht belastbar."

(Von Ursula Knapp, redigiert von Hans Seidenstücker Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)