Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Olaf Scholz hat geschafft, was ihm vor Jahresfrist nur wenige zutrauten. Der 63-jährige SPD-Politiker ist der offenbare Sieger der Bundestagswahl 2021 und könnte als neunter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ins Kanzleramt einziehen - als vierter Sozialdemokrat nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Seine SPD hat deutlich zugelegt, die Union deutlich verloren, das steht fest.

Scholz beansprucht nun nach deutlichen Zuwächsen der SPD die Regierungsbildung für sich und muss in nun wohl folgenden Koalitionsgesprächen ein Bündnis mit Grünen und Liberalen dafür schmieden. Lange Zeit von vielen für seine Ambitionen auf das höchste Regierungsamt belächelt, hat er es damit schon jetzt vielen gezeigt. Unabhängig vom letztendlichen Gelingen dieses Vorhabens ist das der Triumph eines stoischen Machtmenschen, der im Wahlkampf gegen unglücklich agierende Gegenkandidaten konsequent auf seine beim Wähler wohlbekannten Eigenschaften vertraute.


   Merkel-Attribute 

Dass Scholz nie als charismatischer Menschenfänger galt, kam ihm im Bundestagswahlkampf 2021 mehr und mehr zugute, denn es sind ganz ähnliche Attribute, wie sie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stets angeheftet wurden. Als ihren Nachfolger im Kanzleramt nach 16 Jahren Regierungszeit trauten es die Menschen in den unsicheren Zeiten von Corona- und Klimakrise ganz offenbar vor allem dem regierungserfahrenen Scholz zu, eine Fortsetzung von Merkels Amtsduktus mit anderen Mitteln zu erreichen.

Scholz gelang es dabei ein ums andere Mal, Vorwürfe zu seiner Amtsführung an sich abprallen zu lassen - zu den Skandalen um Wirecard und die Warburg Bank ebenso wie zur Anti-Geldwäschestelle FIU. Dass nichts davon bei den Wählerinnen und Wählern verfing, ist auch ein später Triumph seiner oft geschmähten kommunikativen Eigenschaften. Profitieren konnte er dabei von der Profillosigkeit des Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und den Fehlern der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.

Baerbock hat bereits deutlich gemacht, dass sie sicher auch in eine Regierung unter Scholz eintreten würde. FDP-Chef Christian Lindner hat sich da zurückhaltender gezeigt. An der Stabilität einer noch zu verhandelnden Koalition mit Baerbock und Lindner müsste sich Scholz als Kanzler am Ende auch im Vergleich zu Merkel messen lassen.

Der 1958 in Osnabrück geborene Scholz wuchs im Hamburg auf und ist dort nach einem Jura-Studium seit 1985 als Rechtsanwalt zugelassen - er ist Fachanwalt für Arbeitsrecht. In der SPD ist er seit 1975, bei den Jungsozialisten war er von 1982 bis 1988 stellvertretender Bundesvorsitzender und machte mit Kapitalismuskritik auf sich aufmerksam. Später war er zunächst von 2000 bis 2004 sowie erneut von 2009 bis 2018 zwei Mal Vorsitzender des Hamburger SPD-Landesverbands.

Auf Bundesebene stieg Scholz 2002 in der Zeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zum Generalsekretär seiner Partei auf. Er bekleidete das Amt bis zum Rücktritt Schröders vom Parteivorsitz im Jahr 2004 und war in der Zeit einer der Architekten der Agenda 2010. Aus dieser Zeit stammt auch seine Titulierung als "Scholzomat" aufgrund seines als nüchtern und bürokratisch empfundenen Sprachstils in der Öffentlichkeit.

In der großen Koalition unter Kanzlerin Merkel war Scholz von 2007 bis 2009 Bundesarbeitsminister. Zu seinen Erfolgen zählt er die Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit nach der Finanzkrise 2008/2009 durch Kurzarbeitergeld.


   Kanzlerkandidat anstatt SPD-Chef 

Ab 2011 war Scholz Erster Bürgermeister von Hamburg, bis er 2018 nach Berlin in die erneute große Koalition unter Merkel wechselte - diesmal als Finanzminister und Vizekanzler. Die SPD führte Scholz in dieser Zeit kommissarisch im Frühjahr 2018 nach dem Rücktritt von Martin Schulz. Bei seiner späteren Kandidatur für den Parteivorsitz unterlag Scholz aber 2019 mit Klara Geywitz gegen Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Auf Vorschlag beider wurde er im August 2020 überraschend als Kanzlerkandidat der SPD nominiert.

Jetzt ist Scholz, nach den Umfragen vor der Wahl indes nicht mehr ganz so überraschend und getragen von einem starken SPD-Wahlergebnis, der Kanzlerkandidat für die Merkel-Nachfolge.

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September 26, 2021 16:30 ET (20:30 GMT)