Von Jon Sindreu

LONDON (Dow Jones)--Befürworter eines Verbots von Kurzstreckenflügen haben ein Problem: die Anschlussflüge. In den letzten Jahren haben Umweltaktivisten wie Greta Thunberg Reisende und politische Entscheidungsträger dazu ermutigt, Flugzeuge durch weniger umweltschädliche Verkehrsmittel zu ersetzen. Als Frankreich während der Pandemie Air France rettete, geschah dies mit der Auflage, innerstaatliche Flüge unter zweieinhalb Stunden zu streichen, sofern es eine Zugalternative gibt.

Die eher geringe Distanz zwischen den Ballungszentren in der Europäischen Union macht die Region zu einem idealen Testgebiet. Brüssel hat vor kurzem den kommerziellen Fernverkehr auf der Schiene liberalisiert und arbeitet an der Fertigstellung eines transeuropäischen Eisenbahn- und Straßennetzes bis 2040.

Die Frage, wohin das führen könnte, ist auch für Anleger interessant. In einem Bericht aus dem Jahr 2020 schätzte UBS die Einnahmemöglichkeiten durch neue europäische Hochgeschwindigkeitsprojekte in den nächsten zehn Jahren auf bis zu 60 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite könnte dies bedeuten, dass die Hersteller 37 Prozent weniger Schmalrumpf-Flugzeuge pro Jahr produzieren. Da eine Zukunft mit emissionsfreien Flugzeugen ungewiss ist, wären Regional- und Billigfluggesellschaften besonders gefährdet, wohingegen Transatlantikdienste mit vollem Service weniger betroffen wären.


   Musterfall Deutschland 

In einer neuen Studie wecken die Autoren Vreni Reiter, Augusto Voltes-Dorta und Pere Suau-Sánchez jedoch Zweifel, inwieweit Züge diese Aufgabe übernehmen können. Die Verfasser der Studie "The substitution of short-haul flights with rail services in German air travel markets: A quantitative analysis" verwenden als Beispiel das dicht besiedelte Deutschland, wo eine relativ gleichmäßig verteilte Bevölkerung umfassendem Zugang zum Hochgeschwindigkeitsverkehr hat. Sie ermittelten 87 Nonstop-Flugstrecken - etwa 32 Prozent der jährlichen Sitzplatzkapazität in Deutschland -, die theoretisch von einem Verbot betroffen wären, wobei die längste Zugfahrt fünf Stunden und 37 Minuten dauert.

Entscheidend ist, dass diese Studie etwas berücksichtigt, was die meisten anderen vergessen: Etwa ein Viertel der Passagiere reist nicht von Punkt zu Punkt, sondern zu einem Drehkreuzflughafen und steigt dann in ein Langstreckenflugzeug um. Wie im Fall von Air France wären die Behörden vermutlich toleranter gegenüber solchen Flügen. Aber das würde auch die Umweltvorteile schmälern: In einem Szenario, in dem die Fluggesellschaften nur 10 Prozent der Sitze für Anschlussflüge nutzen müssten, um eine Strecke aufrechtzuerhalten, würden die Kohlendioxidemissionen im Flugverkehr lediglich um 2,7 Prozent sinken.


   Umweltvorteile versus Reisezeit 

Eine Anhebung des Schwellenwerts auf 80 Prozent würde eine stärkere Senkung um 22 Prozent bewirken. Dann würden aber 71 Prozent der Fluggäste auf die Bahn oder direkte Langstreckenflüge umgelenkt, was die Reise im Durchschnitt um zwei Stunden verlängern würde. In einigen Extremfällen beliebter Strecken, die keine Drehkreuzflughäfen einbeziehen, wie zum Beispiel Berlin-Stuttgart, würde selbst ein Schwellenwert von 10 Prozent dazu führen, dass mehr als eine Million Menschen pro Jahr keine andere Wahl hätten, als die doppelte Reisezeit oder gar mehr in Kauf zu nehmen.

Die Lehren daraus sind generell anwendbar. Die Hochgeschwindigkeitsbahn wird ihren Marktanteil auf Strecken mit hoher Punkt-zu-Punkt-Nachfrage, wie München-Berlin, Barcelona-Madrid oder Seoul-Busan, weiter ausbauen. Aber um als Zubringer zu fungieren, müssten die Schienennetze massiv ausgebaut werden.

Die Kapazität der Züge müsste auf die wenigen Abflugstunden abgestimmt werden, in denen die Fluggesellschaften ihre großen Flugzeuge füllen. Den überwiegenden Teil des Tages lägen Kapazitäten brach. Außerdem müssten die Züge die Menschen direkt zu den Flughäfen und nicht zu den Bahnhöfen in den Stadtzentren bringen. Solche "intermodalen" Netze sind oft nicht vorhanden. Spanien zum Beispiel wird in Bezug auf die Anzahl der Hochgeschwindigkeitsstrecken nur noch von China übertroffen, hat aber seine wichtigsten Flughäfen noch nicht an das Netz angeschlossen. Die Investitionen, die erforderlich wären, um all diese Hochgeschwindigkeitskapazitäten in kleinere Städte zu bringen, wären nicht nur enorm hoch, sondern auch umweltschädlich. "Eine Kosten-Nutzen-Analyse lässt eine pauschale Verbotspolitik in einem schlechten Licht erscheinen", so Dr. Suau-Sánchez. "Ein chirurgischer Ansatz ist am besten."

Aber Fluggesellschaften und Flughäfen von Fall zu Fall ins Visier zu nehmen, könnte schnell gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen. So angenehm es auch sein mag, in einem Zug zu reisen, anstatt sich durch die Menschenmassen auf einem Flughafen zu kämpfen, das Ende der Kurzstreckenflüge ist noch lange nicht in Sicht.

Kontakt zum Autor: unternehmen.de@dowjones.com

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September 28, 2022 03:13 ET (07:13 GMT)