Die Aktie überzeugt noch nicht auf den ersten Blick, weil die Struktur der Gruppe komplex ist. Das hochprofitable Online-Werbegeschäft muss getrennt von Entwicklungsprojekten und anderen Investitionen bewertet werden. Gleiches gilt für die vielen unprofitablen und dennoch vielversprechende Vermögenswerte, die in der Bilanz erscheinen.

Chart Baidu, Inc.

Mit ca. $20 an Netto-Bargeld und $40 an Investitionen pro Aktie macht das Portfolio an Bargeld und Investitionen allein 40% der Marktkapitalisierung aus. Damit verbleibt für das „Kerngeschäft (Forschung, Werbung und iQiyi zusammengenommen)“ ein Wert von dem 10-12-fachen der aktuellen Buchgewinne, was jedoch die tatsächlichen Bargewinne nicht vollständig berücksichtig.

In der Theorie wird ein derart verfälschtes KGV weder der Monopolstellung der Gruppe bei der Internet-Suche (75 % Marktanteil und mehr als eine Milliarde Nutzer), noch ihrem mächtigen Wettbewerbsvorteil gerecht, der sich aus dem „Netzwerkeffekt" ergibt. In der Praxis ist es jedoch leicht zu erkennen, warum Investoren misstrauisch sind.

In China wurden in den letzten Quartalen die Werbebudgets massiv auf firmeneigene Plattformen (sog. „Super-Apps") für Nachrichten, Unterhaltung oder soziale Netzwerke umgelenkt, zum Beispiel auf die bekannteste dieser Plattformen, TikTok, die sich im Besitz von ByteDance befindet.

Im Gegensatz zum „offenen" Internet, bieten Super-Apps ein reichhaltiges kreatives Umfeld für Entwickler und Werbetreibende. Sie sind in China gestartet, wo die Internetverbreitung noch immer durch die mobile Nutzung vorangetrieben wird. Das macht übrigens den Vergleich zwischen Baidu und Google etwas irreführend...

Bis vor kurzem wurde Baidus Strategie, die immer auf Gewinn und nicht auf Nutzerwachstum ausgerichtet war, noch gelobt, doch jetzt wendet sie sich gegen die Gruppe, die ihren Anteil am Online-Werbemarkt dahin schmelzen sieht.

Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Baidu in der Lage ist, Plattformen zu entwickeln oder zu erwerben, die mit denen der Konkurrenten vergleichbar sind. Die Gruppe investiert stark in die Produktion von Inhalten, besitzt iQiyi, das „chinesische Netflix", und hat gerade YY Live erworben, eine Live-Streaming-Anwendung ähnlich wie TikTok.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass diese Übernahme von 3,6 Milliarden Dollar manche Beobachter mit den Zähnen knirschen lässt, so z.B. den Aktivistenfonds Muddy Waters, der in einem ausführlichen Bericht behauptet, YY Live sei: „zu 90% betrügerisch".

Unterdessen laufen die Verkäufe von iQiyi auf Hochtouren. Die Plattform, die Anfang des Jahres ebenfalls von Leerverkäufern angegriffen wurde, hat es mit einem härteren Markt als ihr amerikanisches Pendant zu tun (China ist nach wie vor ein Ort der Piraterie) und mit einem strukturell defizitären Geschäft, da es durch Werbeeinnahmen finanziert wird.

Es ist unwahrscheinlich, dass sich dies in den kommenden Jahren ändern wird, da iQiyi, wie Netflix, massive Investitionen in die Produktion neuer Inhalte tätigen muss, um neue Nutzer zu gewinnen. Ein Rivale wie TikTok hat diesen Zwang nicht, da die Benutzer die Inhalte selbst erstellen.

Schließlich hat der US-Kongress gerade ein Gesetz verabschiedet, das von chinesischen Unternehmen, die an der US-Börse notiert sind, verlangt, dass sie neue Prüfungs- und Transparenzstandards einführen oder riskieren, dass ihre Notierungen gestrichen werden. Diese Unternehmen werden unter anderem nachweisen müssen, dass sie nicht von ihrer Regierung kontrolliert werden.

Unnötig zu sagen, dass dies ein Schlag ins Gesicht für alle chinesischen Technologieriesen ist, da sie aktiv, sei es willentlich oder unwillentlich, am politischen Apparat des Landes mitarbeiten und seit Jahren eine ungeheure „künstlerische Unbestimmtheit" in ihren Strukturen und Berichten aufrechterhalten haben.

Kurz gesagt, man könnte leicht Wasser in die Mühle der Kritiker bringen. Dies schmälert in keiner Weise die Wettbewerbsvorteile von Baidu oder seine durchaus attraktive Bewertung. Wenn man z.B. eine sehr konservative Betriebsmarge von 25% auf das Anzeigengeschäft projiziert und ihm ein Vielfaches von 15 seiner Gewinne zuweist, könnte dies allein schon mindestens 120 Dollar pro Aktie wert sein.

Addiert man dazu die 60 USD an Netto-Bargeld und Investitionen pro Aktie, erreicht der „faire Wert" bereits 180 USD oder 40 USD mehr als die aktuelle Notierung, wobei es sich hier um eine subjektive Einschätzung des Autors handelt. Alle anderen Vermögenswerte - iQiyi, Baidu Maps, Apollo, DuerOS usw. - wurden verkauft, werden also folglich nicht eingepreist.

Apollo zum Beispiel ist der chinesische Technologie-Champion des autonomen Fahrens. Laut McKinsey könnte dieser Markt in China bald Billionen von Dollar wert sein, was die Entwicklung künstlicher Intelligenz zu einer nationalen industriellen Priorität gemacht hat.

Die Referenzplattform in diesem Bereich, zusammen mit Baidu Map, der dominierenden Navigationsplattform, ist wahrscheinlich deutlich mehr als 0 Dollar wert. Bewertet nach ähnlichen Kriterien wie bei Waymo, Cruise oder Argo, könnte dann noch zwischen 10 und 40 Dollar pro Aktie hinzukommen.

Dasselbe gilt für DuerOs, den chinesischen Marktführer im Bereich der Spracherkennung. Vor einigen Monaten schätzte der Gründer und Präsident von Baidu, Robin Li, dass der Aufstieg der „Smart Speakers" eine ähnliche Entwicklung nehmen könnte wie der Aufstieg der Smartphones vor zwanzig Jahren.

Herr Li, der 16% des Kapitals besitzt, ist eine angesehene Persönlichkeit in der Technologiebranche. Er hat bisher echte Disziplin im strategischen Management von Baidu bewiesen, indem er Risiken auf sich nahm, wenn die Chancen gut waren und Verluste einschränkte, wenn die Erfolgsaussichten zu ambitioniert erschienen.

Baidu ist eine neue Position im U.S.-Portfolio von MarketScreener.