Hamburg (Reuters) - Am Tag nach der entscheidenden Sitzung des VW-Aufsichtsrats ist die Erleichterung bei Investoren und Anlegern groß, dass eine Führungskrise vorerst abgewendet werden konnte.

Die Aktie des Wolfsburger Autobauers kletterte am Dienstag in der Spitze um 7,5 Prozent und war größter Gewinner im Leitindex Dax. In die Freude mischte sich aber auch Ernüchterung. Denn Konzernchef Herbert Diess hat zwar seine Vorstellungen bei der Besetzung von Schlüsselpositionen durchgesetzt und kann mit Personen seines Vertrauens im Vorstand den Umbau von Volkswagen nun beschleunigen. Mit seiner Forderung nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung blitzte der 62-Jährige jedoch zum zweiten Mal ab. Das dürfte seine nach dem im Juni verlorenen Machtkampf mit Betriebsratchef Bernd Osterloh ohnehin geschwächte Stellung nach Überzeugung von Analysten nicht gerade gestärkt haben. "Die Kapitalmärkte sind erleichtert, aber Diess hat Kratzer abbekommen", sagt Ingo Speich von der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka Investment.

Der Aufsichtsrat versprach Diess zwar "uneingeschränkte Unterstützung" und lobte seine Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit, mit der er den Wandel des Wolfsburger Mehr-Markenimperiums zu einem Technologiekonzern vorantreibe. Damit stärkte das Gremium Diess den Rücken. Doch nach Meinung von Personen aus dem Umfeld des Aufsichtsrats ist das eher eine gesichtswahrende Lösung, mit der AR-Chef Hans Dieter Pötsch dem Konflikt die Spitze nahm und Diess den Verbleib an der Konzernspitze ermöglichte. Der frühere BMW-Manager habe sich mit dem Beharren auf eine Vertragsverlängerung in eine Sackgasse manövriert. Durch die Verknüpfung mit Forderungen bei der Besetzung und dem Zuschnitt zentraler Bereiche im Konzernvorstand stand zeitweise sogar die Drohung im Raum, dass Diess das Handtuch werfen könnte. Dass es nicht dazu kam, ist vor allem das Verdienst von Aufsichtsratschef Pötsch, der zwischen den Fronten vermittelte und am Ende einen einstimmigen Aufsichtsratsbeschluss zur Unternehmensstrategie hinbekam.

"ABSOLUTE ALPHATIERE"

Mit dem Beschluss sei Diess nun "eingefangen", manche auf der Betriebsratsseite sagen auch "eingehegt". Die Frage ist, wie lange der Burgfrieden hält. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es oft nur Kleinigkeiten braucht, um die Gemüter in Wolfsburg in Wallung zu bringen. "Das liegt auch an der Natur der Akteure", sagt Autoprofessor Stefan Bratzel. "Osterloh und Diess, das sind absolute Alphatiere. Da kracht es häufiger." Der Leiter des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach geht davon aus, dass der Aufsichtsrat keine Alternative gesehen hat, als Diess zu stärken. Inmitten des von ihm vorangetriebenen Wandels zu einem führenden Anbieter von E-Mobilen, selbstfahrenden Autos und digitalen Diensten den Chef auszutauschen, wäre ein zu großes Risiko gewesen. Es habe sich auch kein anderer Anwärter auf den Posten aufgedrängt. Audi-Chef Markus Duesmann müsse sich erst bewähren. Bei Porsche-Chef Oliver Blume sei unklar, ob ihn ein Aufstieg an die Konzernspitze überhaupt reize.

Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler hält es für möglich, dass die Diskussion über Diess in einem Jahr wieder ausbricht. Denn ein Jahr vor Ablauf seines bis April 2023 laufenden Vertrags kann über eine Verlängerung gesprochen werden, die der Aufsichtsrat zum jetzigen Zeitpunkt noch für verfrüht hielt. Diess könnte dann in die Rolle einer 'Lame Duck' geraten, einer "lahmen Ente", die nicht mehr ernst genommen wird, meint Autoanalyst Pieper. "Er hat die Diskussion unnötigerweise losgetreten und könnte jetzt Opfer dieser Debatte werden."

RISKANTE STRATEGIE

Deka-Mann Speich hält dem entgegen, entscheidend aus Sicht des Kapitalmarktes sei, dass Diess den Vorstand nach seinen Wünschen besetzen konnte. "Eine vorzeitige Vertragsverlängerung zu fordern, würde ich als geschickte Verhandlungstaktik werten, um seine Ziele durchzusetzen", sagt Speich. "Auf jeden Fall war es aber ein riskante Strategie, die auch nach hinten hätte losgehen können." Dass der Vertrag nicht verlängert wurde, halte er nicht für kritisch. "Das passt aus Aktionärs- und Unternehmenssicht."

Auch Analyst Frank Schwope von der NordLB sieht Diess' Position als Konzernchef als gestärkt. "Ob sein Vertrag heute oder in einem Jahr verlängert wird, darauf kommt es nicht an." Hendrik Schmidt von der Deutsche-Bank-Fondstocher DWS begrüßt, dass durch die Aufsichtsratsentscheidung Klarheit geschaffen wurde. "Die langwierigen und auch in die Öffentlichkeit getragenen Debatten zeigen aber erneut, welche Governance-Defizite in Wolfsburg weiterhin bestehen", sagte er. DWS habe Diess schon bei seinem Aufstieg an die Konzernspitze vor zweieinhalb Jahren aufgefordert, "mit Demut, Transparenz und neuen Impulsen" verlorenes Vertrauen für Volkswagen zurückzugewinnen. Davon sei auch nach diesem Jahr wenig zu bemerken, kritisiert der Fondsmanager: "Die Diskussion um eine vorzeitige Verlängerung des Vorstandsvertrags erachten wir auch vor dem Hintergrund der einschlägigen Gesetzesnormen und Kodex-Vorgaben für entbehrlich."