Von Jinjoo Lee

NEW YORK (Dow Jones)--Ölkonzerne wandeln auf ihrem Weg zur Energiewende auf einem schmalen Grat. Wenn sie zu schnell auf saubere Energie umsteigen, sinken die Bewertungen in Erwartung schlechterer künftiger Erträge. Geben sie zu wenig nach, riskieren sie, dass ihr Vorstand von einem aktivistischen Investor umgestaltet wird, wie etwa bei Exxon Mobil. Große europäische Ölkonzerne wie BP, Total und Shell haben sich für den schnellen Weg entschieden und versprochen, einen größeren Teil ihres Budgets in erneuerbare Energien zu stecken, obwohl die Renditen nur mäßig sind. Ihre Bewertungen sind dementsprechend gesunken, aber die Anleger sind sich ihrer Sache vielleicht zu schnell sicher.

Die Aktien der US-Ölkonzerne werden mit einem Aufschlag von etwa 58 Prozent auf die europäischen Konkurrenten gehandelt, gemessen an den Zwölfmonatsgewinnen. Letztere lagen in der Vergangenheit bei der Bewertung hinter den US-Ölgesellschaften zurück, aber der Abstand ist größer geworden. Vor zehn Jahren noch waren der Börse die großen US-Ölkonzerne nur einen moderateren Aufschlag von 24 Prozent gegenüber ihren europäischen Konkurrenten wert.


US-Konzerne meiden Wind- und Solarenergie 

Was machen also Exxon und Chevron richtig? Die großen US-Konzerne haben moderatere Investitionen in spekulative neue Technologien wie Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung angekündigt und meiden vehement Wind- und Solarenergie, da die erwarteten Erträge gering sind. Die Summen, die sie zusagen, sind im Vergleich zu europäischen Investoren gering, aber ausreichend, um den Druck der Aktivisten zu unterdrücken - zumindest vorläufig. Chevron erklärte Anfang des Monats, dass es bis 2028 10 Milliarden US-Dollar für neue Technologien ausgeben will, während Exxon Mobil bis 2025 3 Milliarden Dollar für solche Vorhaben bereitstellt.

Die US-Unternehmen haben jeweils weniger als 5 Prozent ihrer Investitionen für 2021 für kohlenstoffarme Investitionen zugesagt. Dagegen sind es bei Shell, BP und Total laut einer Analyse von Raymond James mindestens 10 Prozent. Die Entscheidung ist eine Frage des Risikos. Eine Investition in BP, Shell oder Total führt zu niedrigeren, aber besser vorhersehbaren Renditen, da mehr Kapital von profitablen Bohrungen abgezogen wird. Lightsource BP, die BP-Tochter für die Entwicklung erneuerbarer Energien, will mit seinen Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien durchweg Renditen von 8 bis 10 Prozent erzielen. Öl- und Gasunternehmen streben höhere Renditen in der Größenordnung von 10 bis 15 Prozent an.


Angst vor Weißen Elefanten 

Die Technologien, für die Exxon und Chevron Geld ausgeben - Wasserstoff, Kohlenstoffabscheidung und erneuerbare Kraftstoffe - könnten sich in großem Umfang auszahlen oder zu kostspieligen Investitionsruinen mutieren. In einem Forschungsbericht schreiben die RBC-Analysten Biraj Borkhataria und Erwan Kerouredan, dass Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung "ein höheres Maß an staatlicher Unterstützung und Zusammenarbeit mit anderen Sektoren, einschließlich der Endverbraucher, erfordern, was eine systematische Bewertung erschwert".

Damit sich die Strategie von Exxon und Chevron durchsetzen kann, muss eine Reihe von Annahmen erfüllt sein. Eine davon ist, dass eine der "Mondtechnologien", in die sie investieren, einen Durchbruch erzielt. Es besteht die Möglichkeit, dass dies geschieht, aber auch eine ziemlich gute Chance, dass die Unternehmen noch viel mehr investieren müssen, um greifbare Ergebnisse zu sehen, wenn diese überhaupt eintreten. Biotech-Unternehmen werden für genau diese Versprechen auf bahnbrechende Produkte hoch bewertet, aber sie geben einen viel größeren Teil ihrer Einnahmen für Forschung und Entwicklung aus, um ihre Chancen zu maximieren. Gilead nahm im vergangenen Jahr zum Beispiel etwa 20 Prozent seiner Einnahmen für Forschung und Entwicklung in die Hände. Exxon und Chevron werden in diesem Jahr insgesamt nur 0,2 Prozent ihres Umsatzes für neue Technologien ausgeben.


Die Welt wird elektrischer 

Zynischerweise wird erwartet, dass Exxon und Chevron von der relativ laxen Prüfung ihrer Umweltfreundlichkeit im Vergleich zu den europäischen Konkurrenten profitieren. Dadurch könnten sie mit der Zeit den großen europäischen Unternehmen Marktanteile abluchsen. Angesichts der Erfolge aktivistischer Investoren in diesem Jahr scheint das aber eine riskante Wette zu sein. In Anbetracht dessen hat der Markt die Pläne der europäischen Ölkonzerne vielleicht zu schnell abgetan. So dürfte die Welt sich mit Sicherheit mehr und mehr auf die Elektrifizierung verlagern. Und dabei ist es von Vorteil, einen Fuß in der Tür zu haben, wenn man allgemein Wind- und Solarenergie einsetzt. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, dass europäische Unternehmen mit Einheiten für erneuerbare Energien das Potenzial haben, diese in Zukunft zu attraktiveren Multiplikatoren auszugliedern.

"Was der Markt heute zeigt, ist, dass Investoren bereit sind, kohlenstoffarme Anlagen viel höher zu bewerten als Investitionen in Kohlenwasserstoffe", heißt es in der RBC-Research-Studie. Wenn sich die Bewertungsunterschiede fortsetzen, könnten die großen Konzerne versuchen, kohlenstoffarme Segmente auszugliedern, um einen Teil des geschaffenen "Wertes" besser herauszukristallisieren.


Wind könnte Exxon und Chevron bald entgegenwehen 

Die europäischen Großkonzerne zeichnen sich derzeit auch durch eine Kennzahl aus, die für alle Ölinvestoren - ob klimabewusst oder nicht - von Bedeutung ist: das Potenzial, Barmittel zurückzugeben. Laut Factset haben die europäischen Großkonzerne im Vergleich zu Exxon und Chevron einen höheren erwarteten freien Cashflow für 2022 in Prozent ihrer Marktkapitalisierung. In einem Markt, der Wachstumspotenzial gegenüber anderen Kennzahlen bevorzugt, ist die Bevorzugung von Exxon und Chevron durch die Anleger nicht überraschend. Da die Rhetorik rund um den Klimawandel jedoch weltweit zunimmt, könnte sich der Wind, der in ihre Richtung weht, genauso gut in die andere Richtung drehen.

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September 28, 2021 09:48 ET (13:48 GMT)