Von Jinjoo Lee

MOSKAU (Dow Jones)--Es ist die Ukraine, in die Russland einmarschiert, aber je nach Laune des Kremls droht dem Rest Europas eine kriegsähnlichen Rationierung von Energie. Die Erdgaspreise sind bereits hoch und klettern weiter. In welchem Maße kann der Rest der Welt zur Entspannung beitragen?

Die Erdgas-Terminkontrakte in Europa stiegen am Donnerstagmorgen nach Russlands Überfall auf die Ukraine um fast 40 Prozent auf 40,39 US-Dollar pro Million britische Wärmeeinheiten (BTU). Das entspricht etwa dem Achtfachen der US-Preise. Europa ist in hohem Maße von russischem Erdgas abhängig. 38 Prozent des Bedarfs der Europäischen Union wurden 2020 von Russland gedeckt. Während der Frühling noch auf sich warten lässt, liegen die Erdgasvorräte in der Region nach Angaben von S&P Global Platts immer noch etwa ein Viertel unter dem Fünfjahresdurchschnitt.


   Unterbrechung der Erdgasströme durch die Ukraine 

Am wahrscheinlichsten ist ein Szenario, bei dem nur die Erdgasströme durch die Ukraine unterbrochen werden. Die Folgen wären in diesem Fall überschaubar. Die Ukraine ist für die europäische Energieversorgung nicht mehr annähernd so wichtig wie in den frühen 2000er Jahren, als das Land noch die Hauptroute war, über die Russland sein Erdgas nach Europa pumpte.

2006 beispielsweise gingen noch 80 Prozent der russischen Gaslieferungen nach Europa durch die Ukraine. In den vergangenen Jahren hat die Ukraine eine geringere Rolle gespielt, und am 20. Februar 2022 flossen nach eigenen Angaben von Gazprom nur noch etwa 18 Prozent des Erdgases durch das Land.

Dabei ist zu beachten, dass Russland bereits seit vergangenem Jahr die Erdgaslieferungen durch Belarus und die Ukraine stark eingeschränkt hat, während die direkten Lieferungen nach Europa weitgehend intakt blieben. Gazprom beförderte zuletzt etwa 1,7 Milliarden Kubikfuß Erdgas pro Tag durch die Ukraine. Das entsprach 40 Prozent der Menge, die noch im Januar 2021 floss.


   USA ist führender Flüssiggaslieferant 

Damit ist Europa bereits heute stark auf Flüssiggasimporte auf dem Seeweg angewiesen. Ein großer Teil davon kommt aus den USA. Nach Angaben des Center for Liquefied Natural Gas (CLNG) erhielt Europa beispielsweise im Januar fast 77 Prozent der aus den USA exportierten LNG-Fracht. Die USA können maximal 11,6 Milliarden Kubikfuß Erdgas pro Tag verflüssigen. Geht man von einer hohen Auslastung aus, würde dies bedeuten, dass die USA zwischen 8 und 9 Milliarden Kubikfuß pro Tag versenden. Damit verbliebe lediglich ein Rest von etwa 3 Milliarden Kubikfuß pro Tag an amerikanischem LNG, das exportiert werden könnte.

In Anbetracht der Tatsache, dass LNG-Ladungen aus den USA auch für asiatische Kunden bestimmt sind, wo das Angebot ebenfalls knapp ist, bleibt nicht viel Spielraum. Dennoch könnten weitere LNG-Ladungen aus den USA sowie aus anderen Ländern wie Katar und aus Lagern dazu beitragen, einen Ausfall auf dem Weg durch die Ukraine zu kompensieren. Nach Angaben von S&P Global Platts lagern in Europa etwa 1,3 Billionen Kubikfuß in Tanks.


   Wenn der Worst Case eintritt ... 

Das Worst-Case-Szenario, bei dem sich Russland dazu entschließt, auch anderen Pipelines den Hahn zuzudrehen, wäre jedoch katastrophal. Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge sagte der russische Präsident Wladimir Putin am Dienstag auf einer Energiekonferenz, dass das Land dies nicht vorhabe. Völlig ausgeschlossen ist es jedoch nicht.

Nikos Tsafos, Lehrstuhlinhaber für Energie und Geopolitik am Center for Strategic and International Studies, erklärte bei einer Pressekonferenz Anfang des Monats, dass Europa in einem solchen Fall mit einer "Rationierung von Gas für Industriekunden" rechnen müsse und dass die Länder anfangen müssten, zu verbrennen, was ihnen noch bliebe: "Öl, Kohle, Holz". Die Preise seien dann "im Wesentlichen bedeutungslos".

Zwar gibt es noch andere Länder, die theoretisch Erdgas liefern könnten, aber die meisten von ihnen sind schon am Limit. Laut einem Bericht von Reuters hat der norwegische Ministerpräsident erklärt, dass das Land bereits die maximale Kapazität an Erdgas verschickt. Katar, ein führender LNG-Exporteur, hat nur begrenzte Kapazitäten für Lieferungen, da ein Großteil seiner Mengen vertraglich für Asien gebunden ist.


   Es mangelt an LNG-Terminals 

Bei der Suche nach Diversifizierung seiner Erdgaslieferanten könnte Europa am Wendepunkt stehen. LNG-Importe bleiben die naheliegende Lösung, aber dafür müsste Europa wahrscheinlich an mehr Orten LNG-Terminals bauen. Heute befindet sich ein Drittel der europäischen LNG-Anlandekapazitäten in Spanien und Portugal. 24 Prozent entfallen auf Großbritannien. Die Planung und der Bau von Import- und Exportterminals dauern jedoch Jahre.

Ein milder Winter und starke LNG-Ströme hatten den Kontinent bisher vor noch höheren Preisen bewahrt, bemerkt Christopher Louney, Rohstoffstratege bei RBC Capital Markets.

Da der Kreml und das Wetter aber gleichermaßen unberechenbar sind, bleibt weiterhin unklar, wer Europa im Ernstfall aus der Patsche helfen kann.

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DJG/DJN/rer/smh

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February 25, 2022 04:44 ET (09:44 GMT)