Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Der vorläufige Stopp der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 legt den Finger in Deutschlands Wunde: die Energieversorgung. Mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündeten Aussetzung des Genehmigungsverfahrens der russisch-deutschen Gasleitung durch die Ostsee hat Deutschland die richtige politische Konsequenz zur russischen Aggression in der Ostukraine gezogen. Deutschland wird aber einen gehörigen Preis dafür zahlen. Denn es ist auf Gas angewiesen, und die Gasversorgung könnte nun noch teurer werden. Drohungen dazu gibt es bereits aus Russland.

Deutschland will nicht nur bis Ende des Jahres das letzte Atomkraftwerk abschalten, sondern bis 2030 auch aus der Kohleverstromung aussteigen. Der Ökostromausbau schreitet voran, aber nicht schnell genug, um bis zum anvisierten Kohleausstieg Deutschlands Strombedarf komplett mit erneuerbaren Energien zu decken. Daher kommt Gas in der Übergangszeit eine Schlüsselrolle zu.

Bislang bezieht Deutschland russisches Gas über die Gaspipeline Nord Stream 1, die durch die Ukraine führt. Mit der gut 1.200 Kilometer langen Gasröhre Nord Stream 2 durch die Ostsee, die zwar fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb ist, könnte Deutschland deutlich mehr Gas beziehen. Jahrelang hat die Bundesregierung das Projekt gegen Kritik von anderen Ländern der Europäischen Union und den USA verteidigt. Auch Scholz, denn die Gasröhre wurde von seinem frühen Chef, dem Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), gemeinsam mit Putin ins Leben gerufen.

Deutschland bezieht bereits heute über die Hälfte seiner Erdgasimporte aus Russland. An zweiter und dritter Stelle folgen Norwegen und die Niederlande. Bislang hat Russlands Hauptgasexporteur Gazprom seine langfristigen Gaslieferverträge mit Deutschland weitgehend eingehalten. Aber Gazprom hat zuletzt kaum zusätzliches Gas am Spotmarkt verkauft. Dieses, gepaart mit der angespannten geopolitischen Lage, hat in den vergangenen Wochen zu einem deutlichen Anstieg der Gaspreise geführt. Anders als in der Vergangenheit war Flüssiggas (LNG) nicht mehr deutlich teurer als russisches Erdgas.


   Russland warnt vor steigenden Gaspreisen wegen Nord-Stream-2-Stopps 

Europa will nun einem drohenden Engpass bei russischen Gaslieferungen mit mehr Erdgaslieferungen aus Norwegen, den Niederlanden und mit Flüssiggasimporten entgegenwirken.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat Deutschland bereits auf weiter steigende Gaspreise eingestimmt. Die Versorgungssicherheit mit Gas sei gegeben, betonte er bei einem Besuch in Düsseldorf. Allerdings würden Kriege die Gaspreise üblicherweise kurzfristig in die Höhe treiben.

Aus Moskau kam denn auch nach Scholz' Verkündung des vorläufigen Aus von Nord Stream 2 eine klare Drohung. Dmitri Medwedew, Vizechef des Sicherheitsrates und früherer russischer Ministerpräsident unter Präsident Wladimir Putin, erklärte dazu auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "Nun ja, herzlich willkommen in der schönen neuen Welt, wo die Europäer bald schon 2.000 Euro pro 1.000 Kubikmeter Gas zahlen werden!" Der aktuelle Preis liegt deutlich darunter.

Putin hatte bereits vergangene Woche während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz in Moskau darauf hingewiesen, dass russisches Gas für Deutschland vergleichsweise billig sei.


   Lieferstopp für gewissen Zeitraum überbrückbar 

Sollte es zu einem generellen Lieferstopp von Gas aus Russland kommen, könne Deutschland das nach Ansicht von Claudia Kemfert, Energieexpertin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), "überbrücken, zumindest für einen gewissen Zeitraum".

Sie stellte sich hinter den deutschen Genehmigungsstopp von Nord Stream 2. Seit Jahren hält sie die Gaspipeline für "unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel".

Allerdings sei Deutschland schlecht vorbereitet, denn es fehle eine strategische Gasreserve, die Deutschland im Ernstfall wie beim Öl für 90 Tage versorgen könne.

"Es ist mit weiteren Preissteigerungen zu rechnen, aber nicht, weil Nord Stream 2 gestoppt wird, sondern weil es sich generell um eine sehr ernste geopolitische Krise handelt", so Kemfert.


   Entlastungen für Privathaushalte geplant 

Am Mittwoch wird sich nun der Koalitionsausschuss der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP treffen, um über ein Entlastungspaket zu beraten. Verbrauchern soll wegen der jüngsten Energiepreissteigerungen unter die Arme gegriffen werden. Dies ist ein erster Schritt.

Auch ohne den Stopp von Nord Stream 2 und die krisenbedingten Energiepreissteigerungen würde die Energiewende teuer werden. Für den klimafreundlichen Umbau des Landes sollen die Ökostromanlagen massiv ausgebaut werden. Industrieanlagen müssen klimafreundlich umgerüstet und Häuser besser gedämmt werden. Die CO2-Bepreisung der Zertifikate für den Kohlendioxidausstoß wird sich weiter verteuern. Verbraucher und Firmen müssen daher in Zukunft tief in die Tasche greifen. Hier ist Hilfe vom Staat gefragt.

Sollte es beim Stopp von Nord Stream 2, einem anhaltenden militärischen Konflikt und hohen Gaspreisen bleiben, wird sich der Druck für eine schnelle Energiewende in Deutschland erhöhen. Und es wird teuer.

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February 22, 2022 11:29 ET (16:29 GMT)