GENF (dpa-AFX) - Mit umstrittenen Marketingtricks bringen Babymilchpulver-Firmen junge Mütter nach Überzeugung von Gesundheitsexperten vom Stillen ab. Das müsse gestoppt werden, verlangen sie in einer Artikelserie in der Fachzeitschrift "The Lancet". Nötig seien mehr Unterstützung für Mütter beim Stillen und ein internationaler Vertrag, der vor "ausbeuterischer Vermarktung" schützt und den Firmen politische Lobbyarbeit verbietet.

Nach Angaben der Autorinnen und Autoren nutzen Hersteller die Unsicherheit von Müttern zum Geschäftemachen aus. Sie erweckten den Eindruck, dass Babys, die nicht durchschlafen oder Koliken haben, mit künstlicher Babynahrung (Formula-Milch) besser versorgt würden als mit Muttermilch. Dabei könnten solche Probleme oft mit Unterstützung durch Fachpersonal gelöst werden. Gestillte Babys hätten ohne Zweifel den besten Start ins Leben.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, Babys sechs Monate lang ausschließlich zu stillen. Danach sollten Babys auch andere Nahrung bekommen, aber mindestens bis zum zweiten Geburtstag weiter gestillt werden. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte empfiehlt in Deutschland vier bis sechs Monate voll zu stillen. "Wenn ab vier Monaten auch Brei gegeben wird, ist die Gefahr geringer, dass sich Nahrungsmittelallergien bilden", sagt Sprecher Jakob Maske der dpa. In Ländern, in denen oft kein sauberes Wasser zum Anrühren zur Verfügung stehe, sei längeres Stillen natürlich besser. Maske betont, dass das Stillen nicht bei allen Mütter und Babys funktioniert. Auch die freie Entscheidung, nicht zu stillen, werde nicht verurteilt.

"Das ganze Wunderwerk Muttermilch ist nicht nachahmbar", sagte Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartments Kinderernährung an der Universität Bochum. Sie war nicht an den Artikeln beteiligt. Babys könnten auch mit Formula-Milch sicher ernährt werden. Es gelinge aber nicht, die bioaktiven Substanzen der Muttermilch, die bei der Prägung des Immunsystems helfen, nachzubilden.

Die WHO hatte die Marketingpraktiken von Herstellern 2022 in einem Bericht angeprangert und einen Umsatz von weltweit rund 55 Milliarden Dollar im Jahr genannt. Manchmal nähmen Mitarbeiterinnen an Gruppen für junge Mütter in sozialen Medien teil. Sie schürten dort Ängste, priesen Muttermilchersatzprodukte als Lösung und böten kostenlose Proben an, ohne zu sagen, dass sie dafür bezahlt werden.

Die Schweizer Firma Nestlé weist solche Machenschaften von sich. Sie ist nach Angaben von Branchendiensten mit rund 16 Prozent Weltmarktanteil der größte Produzent von Babymilchpulver. "Wir unterstützen die WHO-Empfehlung, Babys in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich zu stillen", teilte die Firma mit. Sie mache weltweit keine Werbung für Milchpulver für bis zu sechs Monate alte Babys und in 163 Ländern, darunter China, Indien und Indonesien, auch nicht für bis zu zwölf Monate alte Babys.

Der WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten von 1981 funktioniere nicht, schreiben die Autoren. Danach soll unter anderem für solche Produkte nicht öffentlich geworben werden und es sollen keine kostenlosen Proben an Mütter verteilt werden. Unter dem Druck von Industrie-Lobbyisten hätten viele Regierungen den Kodex aber nicht umgesetzt. In fast 100 Ländern werde er verletzt. In Deutschland ist seit Februar 2022 eine EU-Verordnung in Kraft, die auf dem WHO-Kodex beruht. "Wir brauchen einen strengeren internationalen Vertrag über Werbung für Formula-Milch, der weltweit gesetzlich umgesetzt wird", verlangte Mitautor David McCoy.

Nach Angaben der WHO werden weniger als die Hälfte der Babys weltweit sechs Monate lang ausschließlich gestillt. In Deutschland sind es 13 Prozent, sagt Regina Ensenauer, Leiterin des Instituts für Kinderernährung am Max-Rubner-Institut in Karlsruhe. Die Milchpulverindustrie wachse, so die Studien-Autoren. Die Firmen sähen in der Sorge von Eltern um ihre Babys eine Chance für Geschäftemacherei, schrieb Autor Nigel Rollins von der WHO.

Frauen müssten beim Stillen gesellschaftlich stärker unterstützt werden, etwa durch ausreichend Mutterschaftsurlaub, heißt es in "The Lancet". Zudem müsse mehr Personal geschult werden, um Frauen nach der Geburt stärker bei Problemen mit den Stillen zu unterstützen. Das sei auch in Deutschland nötig, sagt Ensenauer: "Grundsätzlich ist es so, dass das Stillen viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt."

Die Zeitschrift betont, dass manche Frauen ihr Baby nicht stillen können und auf Milchpulver angewiesen sind. Zudem könne jede Frau frei entscheiden, wie sie ihr Baby ernährt. Es müsse aber sichergestellt werden, dass die Mütter korrekte und unabhängige Informationen erhalten, "frei vom Einfluss der Industrie"./oe/DP/mis