Hamburg/München (Reuters) - Erst ein historischer Absatzeinbruch, dann Engpässe bei der Versorgung mit Computerchips: Die Autobranche kann auch in diesem Jahr nicht aufatmen.

2020 schrumpfte der Pkw-Markt in der Europäischen Union wegen der Corona-Krise um fast ein Viertel auf rund 9,9 Millionen Fahrzeuge, wie der Herstellerverband ACEA am Dienstag mitteilte. Dabei lag das Minus im Dezember EU-weit noch bei 3,3 Prozent. In Deutschland kletterten die Neuzulassungen wegen des staatlich angeheizten Verkaufsbooms bei E-Autos und dem Auslaufen der Mehrwertsteuersenkung im Dezember sogar um fast zehn Prozent. Experten warnen allerdings davor, dies als Zeichen einer Stabilisierung zu werten. "Nach wie vor ist der Neuwagenmarkt unter enormem Druck, und die derzeitige Entwicklung der Infektionszahlen lässt für das Frühjahr 2021 wenig Gutes erwarten", sagte Peter Fuß, Autoexperte der Unternehmensberatung EY.

Geschlossene Autohäuser, Ausgangssperren und ein erneuter Konjunktureinbruch: Das alles stelle eine existenzielle Belastungsprobe für die europäische Automobilindustrie dar. "Die kommenden Monate werden enorm hart für die Branche." Für das zweite Halbjahr ist Fuß allerdings optimistisch: Sollten die Impfungen den erhofften Erfolg haben und die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie gelockert werden können, dürfte sich die Konjunktur und damit der Automarkt rasch erholen. "Es gibt in vielerlei Hinsicht einen enormen Nachholbedarf - das könnte gerade in der zweiten Jahreshälfte zu einem kräftigen Schub führen", glaubt Fuß. Dennoch werde weder in der EU noch in Deutschland beim Neuwagenabsatz alsbald das Vorkrisenniveau erreicht. "Es wird dauern, bis der Markt sich vollständig erholt hat."

Ausgerechnet in der einsetzenden Erholung machen nun Engpässe bei Computerchips der Branche zu schaffen. Immer mehr Autobauer müssen deshalb die Produktionsbänder anhalten und Tausende Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. Die Engpässe alarmieren die deutsche Autoindustrie zunehmend. Vor allem Volkswagen und Daimler sind hierzulande betroffen. Inzwischen laufen Gespräche mit der Politik darüber, wie die Lage entschärft werden könnte. "Global wird intensiv daran gearbeitet, die Versorgung der Automobilindustrie mit Halbleitern - insbesondere auf der Ebene der Chip-Hersteller - sicherzustellen", erklärte der Verband der Automobilindustrie. "Der VDA ist hierzu auch mit der Bundesregierung in Kontakt." Darüber hatte zuvor auch die "Automobilwoche" berichtet.

WELTWEIT BIS ZU ZWEI MILLIONEN FAHRZEUGE WENIGER

Grund für die Chip-Flaute ist - neben den Folgen der Pandemie - auch der vom scheidenden US-Präsidenten Donald Trump entfachte Handelskrieg mit China. Dadurch sind die ohnehin an der Kapazitätsgrenze arbeitenden chinesischen Halbleiterhersteller zusätzlich in Bedrängnis geraten. Wegen der hohen Nachfrage nach Unterhaltungselektronik in Corona-Zeiten können sie ihre Produktion nicht einfach auf Autochips umstellen, um den steigenden Bedarf der Autobauer zu bedienen. Experten gehen deshalb davon aus, dass der Mangel an Halbleitern für die Automobilindustrie bis zu sechs Monate anhalten wird. LBBW-Analyst Frank Biller verweist auf eine Studie des Prognosehauses LMC Automotive, wonach wegen der Chip-Engpässe in diesem Jahr weltweit bis zu 2,2 Millionen Fahrzeuge weniger gebaut werden könnten als bisher angenommen. Statt prognostizierten 87,6 Millionen könnten womöglich nur 85,4 Millionen Einheiten von den Bändern rollen.

Biller rechnet damit, dass sich die Engpässe bis ins zweite Quartal hinziehen werden. Vor allem Nord- und Südamerika seien davon betroffen. In Europa dürften sich die Produktionsausfälle im ersten Quartal dagegen in Grenzen halten, da hier die Läger länger reichten. Der LBBW-Analyst verweist darauf, dass die Hersteller die Produktion wegen der Chip-Engpässe von margenschwächeren Fahrzeugen wie der Kompaktklasse zu den derzeit stark gefragten Plug-in-Hybridmodellen und Elektroautos umschichten, bei denen mehr Halbleiter verbaut werden. Die Auswirkungen auf die Ergebnisse der Automobilunternehmen sollten damit beherrschbar bleiben, sofern es nicht durch weitere Einschränkungen bei der Bekämpfung der Pandemie zu einer Unterbrechung von Lieferketten komme. Auch Autoanalyst Daniel Schwarz von Stifel Europe geht davon aus, dass die Ergebniswirkung dadurch gedämpft wird, dass die Unternehmen verstärkt Autos mit höheren Margen verkaufen.

(Reporter: Jan C. Schwartz, Christina Amann; redigiert von Olaf Brenner; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 030 2201 33711 (für Politik und Konjunktur) oder 030 2201 33702 (für Unternehmen und Märkte)