Open Text ist ein äußerst interessantes Fallbeispiel für jeden, der sich für Bewertungsfragen interessiert. Das Unternehmen ist ein Star unter den Softwareherstellern - 90% der Fortune-100-Unternehmen zählen zu seinen Kunden - und ein Beispiel für die besten Roll-Ups. Dieser Anglizismus, der in der Finanzwelt allgegenwärtig ist, bezeichnet Konglomerate, die zur Sicherung ihres Wachstums vermehrt Übernahmen tätigen. Dies bedeutet, dass Open Text nicht nur ein erfolgreicher Softwarehersteller ist, sondern auch - und vor allem - ein Unternehmen, das sich auf Akquisitionen spezialisiert hat - ähnlich wie ein Private-Equity-Fonds.

Aber wie sieht es mit den Zahlen aus? Der kanadische Konzern ist heute rund 8,8 Milliarden US-Dollar schwer - bei einem Unternehmenswert von rund 11 Milliarden USD und einer Nettoverschuldung von rund 2,2 Milliarden USD. In den letzten zehn Jahren hat sich der Umsatz verdreifacht und liegt nun bei 3,5 Milliarden USD. Die operativen Margen liegen fest bei 20 % und die Zahl der ausstehenden Aktien steigt nur mäßig - von 235 auf 272 Millionen auf verwässerter Basis. Letzteres bedeutet, dass die meisten der zahlreichen Akquisitionen der Gruppe durch Schulden und den Cashflow des Unternehmens finanziert werden. Dies ist aus Sicht der Aktionäre eine sehr gute Sache. Was die Cashflow-Rentabilität des Konzerns betrifft, so lag der durchschnittliche freie Cashflow (Bargewinn) der letzten drei Jahre bei rund 850 Millionen USD - ohne Berücksichtigung von Aktienoptionen.

Ergebnisentwicklung

Wenn man diese Faktoren berücksichtigt, wird der Konzern für das Zehnfache seiner Bargewinne gehandelt. Dies ist eine äußerst vernünftige Bewertung, umso mehr für ein Unternehmen, das stark wächst und die magischen Wörter "SaaS", "Cloud" und "Software" - Synonyme für wahnwitzige Bewertungen - in den Vordergrund stellen kann. Ist das Geschäft mit etwas Abstand betrachtet nicht ein wenig zu schön? Oder besser gesagt, warum gibt es einen Abschlag auf diesen Wert?

Es gibt mehrere Anhaltspunkte für Antworten: 

  • Zunächst einmal entspricht die Nettoverschuldung von 2,2 Milliarden USD mehr als vier Jahren Cash-Profit. Diese Verschuldung ist angesichts der geringen Kapitalintensität (ohne Übernahmen) des Konzerns noch nicht wirklich besorgniserregend, könnte aber zu einem Problem werden, wenn das genannte Jahresprofil unglücklicherweise sinken sollte. Gewinne, die zudem durch ein sehr gut bezahltes Management drastisch reduziert werden: 21 Mio. USD im Jahr 2021 und 15 Mio. USD im Jahr 2022.
  • Trotz des starken Wachstums ist die Wertschöpfung in Wirklichkeit nur ordentlich, ja sogar ein wenig enttäuschend. In den letzten zehn Geschäftsjahren hat OpenText 7,4 Milliarden USD in Übernahmen investiert, wobei der jährliche Cash-Gewinn von 250 Millionen auf 850 Millionen USD gestiegen ist. Das entspricht einer Kapitalrendite von 12 % - ohne Berücksichtigung der Kosten für Aktienoptionen. Im Vergleich zu seinen Kollegen Constellation Software oder The Descartes Systems, scheint der "Return On Investment" (ROI) hier etwas niedrig zu sein.
  • Schließlich und vor allem hat OpenText vor kurzem ein Mega-Akquisitionsprojekt getätigt, bei dem es die britische MicroFocus übernommen hat - ein bis dato großer Roll-up in der Softwarebranche. Die Akquisition war zwar profitabel, aber mit stark erodierenden Gewinnen und einer hohen Verschuldung. Und sie wurde vom Markt in einem schwierigen Umfeld für M&A nicht besonders gut aufgenommen. Angesichts der Erfahrung des Managementteams kann es jedoch sein, dass sich im Portfolio von MicroFocus einige Kronjuwelen befinden, die neu bewertet werden müssen. Darüber hinaus scheint die Akquisition auch nicht überbezahlt zu sein, da die Transaktion zu einem Bewertungsmultiplikator von nur dem 9-fachen des EBITDA durchgeführt wurde.

Bilanzanalyse

Positiv ist zu vermerken, dass die Insider zu den aktuellen Kursen kaufen, insbesondere Stephen Sadler, CEO von Enghouse Systems, einem weiteren kanadischen Roll-up-Unternehmen, das auf Software spezialisiert ist. Auch die zahlreichen Aktienoptionen haben einen Strike, der etwas über dem aktuellen Kurs liegt, so dass der Verwässerungseffekt kontrolliert werden kann.

Insgesamt besteht seit dem Megadeal "MicroFocus", der die Bilanz noch weiter belasten wird, ein gewisses operatives und finanzielles Risiko, das auf die Hebelwirkung zurückzuführen ist. Reicht das aus, um einen solchen Abschlag zu rechtfertigen? Die Frage verdient es, gestellt zu werden, aber wir überlassen es jedem selbst, sie zu beantworten...