BERLIN (AFP)--Nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kann das deutsch-russische Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 noch scheitern. "Selbst wenn die Pipeline fertiggebaut ist, gibt es noch ein großes Fragezeichen, ob sie auch in Betrieb gehen kann. Unsere Chancen, dass das Projekt doch nicht zum Zuge kommt, liegen bei 30 bis 40 Prozent", sagte Selenskyj den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) reist am Freitag zu Gesprächen nach Moskau, am Sonntag dann nach Kiew, wo auch Nord Stream 2 ein wichtiges Thema sein dürfte. Die Ukraine fürchtet wegen der Ostsee-Pipeline einen Bedeutungsverlust als Transitland für russisches Gas Richtung West- und Zentraleuropa. Merkel trat Befürchtungen entgegen, Russland könnte die Pipeline als Druckmittel gegen die Ukraine nutzen.

Selenskyj betonte nun: "Es ist eine Sache, die Gas-Pipeline zu bauen. Eine andere ist die Inbetriebnahme, das braucht Zeit." Internationales Recht müsse befolgt, internationale Energie-Standards müssten eingehalten werden. "Wir werden die Zeit nutzen, um unsere eigenen Interessen zu verteidigen", betonte der ukrainische Staatschef. Das Thema stehe auch bei seinem Treffen mit US-Präsident Joe Biden am 30. August in Washington ganz oben auf der Agenda.

Durch den Verzicht auf den Gastransit verliere die Ukraine rund 2 Milliarden Dollar pro Jahr. "Wir können erwarten, dass die Gaspreise für die ukrainischen Verbraucher steigen werden, weil weniger durch unsere Pipelines transportiert wird", sagte Selenskyj weiter. "Nord Stream 2 ist eine Waffe." Moskau sei in der Lage, auf dem Gasmarkt für eine Verknappung des Angebots zu sorgen und damit den Preis nach oben zu treiben, warnte er. "In der heutigen Welt braucht man keine Maschinengewehre zu kaufen, um einem Land Schaden zuzufügen. Es reicht, wirtschaftliche Instrumente einzusetzen."

Der Vorstandsvorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Oliver Hermes, hob hingegen die Bedeutung von Nord Stream 2 für Deutschland hervor. Der Passauer Neuen Presse sagte er: "Wir halten Nord Stream 2 weiterhin für eine Schlüssel-Infrastruktur für eine sichere und preisgünstige deutsche und europäische Energieversorgung, insbesondere wenn man daran denkt, dass diese moderne Pipeline mittelfristig auch mit Wasserstoff befüllt werden kann." Der Besuch von Merkel in Moskau sei wichtig für "die Weiterentwicklung der deutsch-russischen Energiebeziehungen zu einer Energie- und Klimapartnerschaft".

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August 20, 2021 00:21 ET (04:21 GMT)