Von Collin Eaton und Sarah McFarlane

FRANKFURT (Dow Jones)--Die weltweite Coronavirus-Pandemie hat zu den umfangreichsten Wertberichtigungen auf Vermögenswerte in der Ölbranche seit mindestens einem Jahrzehnt geführt. Denn die Aussicht auf niedrigere Preise in den kommenden Jahren lässt die Ölkonzerne mit Blick auf ihre kostspieligen Projekte stöhnen. Nach einer Analyse des Wall Street Journals haben Öl- und Gasunternehmen in Nordamerika und Europa in den ersten drei Quartalen 2020 zusammen etwa 145 Milliarden US-Dollar abgeschrieben, so viel wie seit mindestens 2010 nicht mehr in einem Neunmonatszeitraum.

Diese Summe übertrifft zudem deutlich die Abschreibungen, die in den gleichen Zeiträumen in den Jahren 2015 und 2016, während der letzten Ölkrise, vorgenommen wurden, und entspricht etwa 10 Prozent des kollektiven Marktwerts der Unternehmen. Zwar haben Firmen in allen großen westlichen Volkswirtschaften während der Coronavirus-Pandemie so viele Wertberichtigungen auf ihre Vermögenswerte vorgenommen wie seit Jahren nicht mehr, aber die Ölbranche war in der Kategorie der Spitzenreiter nach den Daten von S&P Global Market Intelligence. Auslöser war der beispiellose Einbruch der weltweiten Energienachfrage durch die Covid-19-Pandemie.

Ölproduzenten nehmen häufig Abschreibungen vor, wenn die Rohstoffpreise einbrechen, da der Cashflow aus Öl- und Gasvorkommen sinkt. Die diesjährige branchenweite Neubewertung gehört zu den schärfsten, die es je gegeben hat, weil die Ölfirmen auch mit einer längerfristigen Unsicherheit über die zukünftige Nachfrage nach ihren Hauptprodukten konfrontiert sind. Zudem belastet die Ölkonzerne der Aufstieg der Elektroautos, die Verbreitung der erneuerbaren Energien und die wachsende Sorge über die dauerhaften Folgen des Klimawandels.


   Europäer zählen zur Spitzengruppe 

Die europäischen Branchenriesen Royal Dutch Shell, BP und Total gehörten zu den Firmen, die am deutlichsten den Wert ihrer Assets nach unten anpassten. Diese drei Konzerne waren für mehr als ein Drittel der gesamten Abschreibungen der Branche in diesem Jahr verantwortlich. Die US-Schieferproduzenten wie Concho Resources und Occidental Petroleum verbuchten höhere Wertminderungen als in den vergangenen vier Jahren zusammen. In den Daten, die die ersten drei Quartale des Jahres 2020 umfassen, sind die angekündigten Maßnahmen von Exxon Mobil und Chevron Corp nicht enthalten. So hatte der US-Erdölmulti Exxon Mobil Mitte Dezember angekündigt, bis zu 20 Milliarden US-Dollar auf Erdgasanlagen im vierten Quartal abzuschreiben. Chevron Corp hatte Ende 2019 mitgeteilt, Wertberichtigungen für 10 Milliarden Dollar vorzunehmen.

In die Analyse des Wall Street Journals sind die Daten von S&P Global Market Intelligence, Evaluate Energy Ltd und IHS Markit zu Wertminderungen von großen Ölgesellschaften und unabhängigen Ölproduzenten mit einem Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar mit Sitz in den USA, Kanada und Europa eingeflossen. Regina Mayor, Leiterin der Energieabteilung von KPMG, sagte, dass die Abschreibungen nicht nur den verminderten kurzfristigen Wert der Anlagen widerspiegeln, sondern auch die Überzeugung vieler Unternehmen, dass sich die Ölpreise möglicherweise nie wieder vollständig erholen werden.


   Keine vollständige Erholung der Preise? 

"Sie müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Nachfrage nach dem Produkt zurückgehen wird, und die Abschreibungen sind ein Vorbote dafür", sagte Mayor. Die US-Bilanzierungsregeln verlangen von Unternehmen, dass sie einen Vermögenswert abschreiben, wenn die prognostizierten Cashflows unter den aktuellen Buchwert fallen. Obwohl eine Wertminderung keinen Einfluss auf den tatsächlichen Cashflow eines Unternehmens hat, kann sie potenziell die Kreditkosten erhöhen, da die Schuldenlast im Verhältnis zu den Vermögenswerten steigt. Unternehmen sind außerdem verpflichtet, Wertminderungen als Ergebnisbelastungen zu verbuchen.

Für die Ölindustrie kommt die Neubewertung am Ende einer Ära, in der eine subjektiv wahrgenommene Knappheit des Energieangebots einen Ansturm auf den Kauf von fossilen Brennstoffreserven, einschließlich US-Schiefervorkommen und kanadischen Ölsanden, auslöste. Einige der aufgekauften Vorkommen setzen aber künftig einen höheren Ölpreis als zu Beginn des Jahrzehnts voraus, damit sie profitabel sind. Doch nachdem die Fracker in den USA riesige Mengen an Öl und Gas freigesetzt hatten, erlebten die Ölpreise in den vergangenen fünf Jahren zwei größere Einbrüche. Zuletzt sah die Rohölsorte Brent, die Leit- und Referenzsorte für die Rohölpreise auf dem Weltmarkt, einen Stand von über 100 US-Dollar je Barrel im Jahr 2014.

BP, Shell und Chevron führten interne Prognosen für niedrigere Rohstoffpreise als Ursache für die Wertminderungen an. BP glaubt, dass die Coronavirus-Pandemie einen nachhaltigen Einfluss auf die Wirtschaft haben könnte, sagte Chief Executive Bernard Looney im Juni, als das Unternehmen Abschreibungen ankündigte. Exxon erklärte im November, dass es die Rentabilität seiner Aktiva unter den aktuellen Marktbedingungen strategisch evaluiert habe und den Wert einiger Aktiva um insgesamt 17 bis 20 Milliarden Dollar reduzieren werde. Die Vermögenswerte, die die Unternehmen abschreiben, reichen von Schiefergasgrundstücken in den USA über Mega-Offshore-Projekte bis hin zu immateriellen Vermögenswerten.

Royal Dutch Shell sagte, dass sich die Abschreibungen hauptsächlich auf das Queensland Curtis Flüssiggasprojekt in Australien und die riesige schwimmende Gasanlage Prelude beziehen, die nach jahrelangen Verzögerungen und Kostenüberschreitungen Schwierigkeiten hat, Erträge zu liefern. Die Pandemie hat Royal Dutch Shell zu einer Umstrukturierung veranlasst, die zum Teil darauf abzielt, die Investitionen in kohlenstoffarme Energie zu beschleunigen. In der vergangenen Woche teilte Royal Dutch Shell mit, für das vierte Quartal eine Belastung zwischen 3,5 und 4,5 Milliarden US-Dollar nach Steuern im Zusammenhang mit Abschreibungen oder der Umstrukturierung von Vermögenswerten zu erwarten.

Philip Keejae Hong, Professor für Rechnungswesen an der Central Michigan University, sagte, in den kommenden Jahren könnten der verstärkte Wettbewerb durch erneuerbare Energien und politische Veränderungen in der Einstellung gegenüber der fossilen Brennstoffe eine weitere Überprüfung bei den Vermögenswerten erforderlich machen. "Es ist nicht so, dass ein einzelnes Unternehmen einen schlechten Zug macht", sagte Hong und fügte an: "Es ist eine Bedrohung, der sich die Branche als Ganzes auf lange Sicht stellen muss."

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December 28, 2020 05:40 ET (10:40 GMT)