Von Dieter Holger

BARCELONA (Dow Jones)--Manche Energiekonzerne versuchen es bei fossilen Brennstoffen inzwischen mit einem CO2-neutralen Anstrich. Kritiker fürchten, dass Klimaschutzziele mit diesem Verkaufsansatz unter die Räder kommen könnten.

In Kombination mit CO2-Kompensationsmaßnahmen werden fossile Energieträger vermehrt als klimaneutral vermarktet. Firmen, die diesen Verkaufsansatz verfolgen, räumen zwar ein, dass Kompensationen allein nicht ausreichen, um den menschengemachten Klimawandel zu stoppen, doch Klimaschützer kritisieren, dass ein solches Angebot an sich schon die Gefahr birgt, den Nutzen für das Klima zu überschätzen.

Shell verkauft bereits seit Jahren sogenanntes klimaneutrales flüssiges Erdgas (LNG), während Totalenergies die erste Lieferung im vergangenen Jahr auf den Weg brachte. Das skandinavische Offshore-Förderer Lundin Energy bezeichnet den größten Teil des von ihm verkauften Öls inzwischen als "CO2-neutral produziert". Und in den USA wagt jetzt Occidental Petroleum den Einstieg in diesen Markt.


 Verbesserung der Kohlenstoffbilanz auf dem Papier 

Alle genannten Unternehmen erklären, dass ein Teil der CO2-Emissionen ihrer konventionellen Kraftstoffe in der Kombination mit freiwilligen Klimaschutzmaßnahmen - etwa durch Anpflanzung von Bäumen - ausgeglichen werde.

Auf dem Papier verbessern solche Produkte sowohl die CO2-Bilanz des Käufers als auch die des Verkäufers. Ein Öl- und Gasförderer kann so sein Emissionsproblem auf der Kundenseite anpacken, wo der Kraftstoff verbrannt wird. Hierbei handelt es sich um die sogenannten Scope-3-Emissionen der Endverbraucher. Der Käufer wiederum kann geltend machen, dass er einen Teil seiner Scope-1- und Scope-2-Emissionen angegangen ist, also jene Emissionen, für die er selbst verantwortlich ist, sowie jene, die auf eingekaufte Energie zurückgehen. Der Ansatz ist segensreich für alle jene CO2-Verursacher, die besonders unter Druck stehen, ihre Emissionen zu senken.

Die Überprüfung des tatsächlichen Nutzens für das Klima ist jedoch schwierig. Experten merken an, dass die Menge Kohlenstoff, die Kompensationsprojekte speichern können, schnell überbewertet wird, weil es dem Markt an geeigneten Standards und Regulierung mangele. Dozentin Annie Snelson-Powell von der Universität in Bath warnt, die Sache des Klimaschutzes gerate in Gefahr, wenn man Firmen helfe, ihre Klimaziele zu erreichen, während sie weiter fröhlich fossile Energien nutzen.

"Die Vermarktung von Brennstoffen mit der Behauptung, sie seien CO2-neutral, ist auch als Strategie riskant", sagt Snelson-Powell. Das Etikett "CO2-neutral" könne am Ende dem Ruf eines Unternehmens sogar schaden. "Investoren sind inzwischen klug genug und Interessensvertreter ohnehin zunehmend skeptisch gegenüber großen Firmen, die eine vermeintlich "grüne Agenda" verfolgen, während die negativen Folgen des Klimawandels überall zu spüren sind."


 Ölkonzerne argumentieren mit einer Zwischenlösung 

Der Weltklimarat der Vereinten Nationen hat gefordert, dass eine Senkung der CO2-Emissionen Vorrang haben muss. Gleichwohl räumt das Wissenschaftsgremium ein, dass Ausgleichsmaßnahmen und Projekte der CO2-Abscheidung erforderlich sein könnten, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 zu erreichen, mit dessen Umsetzung die globale Erderwärmung begrenzt werden soll. Energiekonzerne, die Öl und Gas mit Kompensation verkaufen, argumentieren, sie trügen dazu bei, den erforderlichen Markt für schwer zu dekarbonisierende Sektoren zu entwickeln. Überdies böten sie eine unmittelbare Lösung für Klimaschutz, während bessere Technologien noch entwickelt würden.

"Es ist kein Allheilmittel und wir werden es auch nicht als 'grün' bezeichnen", sagt Mehdi Chennoufi, der bei Shell für die Beschaffung von Flüssiggas und die Marktentwicklung verantwortlich ist. Kompensationen sollten nur dann eingesetzt werden, wenn alle Möglichkeiten zur Reduzierung oder Vermeidung von Emissionen ausgeschöpft seien. Der britisch-niederländische Energieriese hat 2019 mit dem Verkauf des von ihm so gelabelten CO2-neutralen Flüssigerdgas begonnen. Der Absatz wird mit Investitionen in Projekte zum Schutz und zur Pflege von Wäldern verknüpft.

Nach Angaben von Shell wurden seit 2019 insgesamt 27 Lieferungen von CO2-neutralem Flüssiggas verkauft, wobei der Konzern selbst an 14 beteiligt war. Shell will sich nicht dazu äußern, wie viel sein CO2-neutrales LNG kostet. Laut dem Center on Global Energy Policy der Columbia-Universität verteuert die "grüne Prämie" für Ausgleichsmaßnahmen den Preis für "klimaneutrales" LNG um etwa 6 bis 9 Prozent.

Das französische Unternehmen Total hat Ende vergangenen Jahres erstmals so genanntes klimaneutrales LNG ausgeliefert, das mit Investitionen in den Schutz von Wäldern in Simbabwe und in ein Windkraftprojekt in China verknüpft ist, das Kohleverstromung ersetzen soll. Die britische BP wiederum bezeichnet ihr Produkt nicht als klimaneutral, hat aber in diesem Jahr erstmalig Flüssiggas in Verbindung mit forstwirtschaftlichen Kompensationsmaßnahmen geliefert.


 Käufer stehen selbst unter Druck 

"Die Käufer von Kraftstoffen sind oft selbst an Emissionsziele gebunden und daher sehr daran interessiert, CO2-neutrale Öl- oder Gasprodukte zu kaufen", so Analyst Tarek Soliman von HSBC. "Öl- und Gasunternehmen können ihren Ruf verbessern, sich mit ihren Produkten von der Konkurrenz abheben und Know-how gewinnen, indem sie ihnen bei der Dekarbonisierung helfen", sagte er weiter.

Wie weit der Ausgleich reicht und wie die Öl- und Gasunternehmen den Nutzen berechnen, ist unterschiedlich. Shell, Total und Occidental gaben an, dass sie genügend Kompensationen für den gesamten Zyklus ihrer Kraftstoffe vorsehen, einschließlich der Emissionen, die bei der Förderung, dem anschließenden Transport und der Verbrennung entstehen. BP gleicht die Belastung aus Förderung und Transport aus und Lundin die Förderung, was bedeutet, dass die bei der Verbrennung ihrer Treibstoffe entstehenden Emissionen nicht abgedeckt sind. Lundin, Shell, Total und BP erklärten, sie hätten das Kompensationsvolumen mit eigenen Analysen ermittelt, während Occidental dabei vom Finanzdienstleister Macquarie unterstützt wurde.

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October 13, 2021 08:37 ET (12:37 GMT)