Von Petra Sorge

BERLIN (Dow Jones)--Es mag in Zeiten coronabedingter Finanznöte und angesichts der Herausforderungen des Klimawandels unverschämt klingen: Für den Atomausstieg muss der Steuerzahler nochmals rund 2,6 Milliarden Euro berappen. Schuld sind aber nicht allein die Energieversorger, die Ursache liegt vielmehr in einer verstolperten Atompolitik vor rund einem Jahrzehnt. 2010 hatte die damalige schwarz-gelbe Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel erst eine Laufzeitverlängerung beschlossen - und diese 2011 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima dann wieder überstürzt zurückgenommen.

Die Konzerne hatten im Vertrauen darauf, ihre Kraftwerke länger betreiben zu können, weitere Investitionen getätigt. Doch diese versandeten. Zweimal rügte das Bundesverfassungsgericht Eingriffe ins Eigentumsrecht und forderte einen Ausgleich. Versuche der Bundesregierung, Entschädigungen zu regeln, entpuppten sich als schlampig und verfassungswidrig.

Mit der jetzigen Einigung - sofern sie vertraglich fixiert wird und in Brüssel standhält - hat die große Koalition vergangene Fehler nicht nur ein Stück weit behoben. Sie kann sogar einen Erfolg verbuchen. Denn letztlich liegt die Entschädigungssumme deutlich unter dem, was allein Vattenfall vor dem privaten, internationalen Schiedsgericht in Washington (ICSID) von der Bundesrepublik gefordert hatte: 4,4 Milliarden Euro - inklusive Zinsen sogar 6,1 Milliarden Euro.

Jetzt geben sich die Schweden mit 1,6 Milliarden Euro zufrieden; eine weitere Milliarde geht an RWE, Eon und ENBW. Hier hat die Bundesregierung gut verhandelt. Ein Grund dürfte auch sein, dass die Versorger nach vorn schauen und das Geld etwa gut für ihre geplanten Ökostrom-Investitionen gebrauchen können. Das Wichtigste: Wenn der Deal gesetzlich besiegelt wird, herrscht endgültig Rechtsfrieden an der Atom-Front. Bis Ende 2022 werden alle Meiler abgeschaltet: dabei bleibt es.

Die enorm hohen Entschädigungen für den Kohleausstieg sind auch als Lehre aus dem Atom-Debakel zu verstehen. Mit den 4,35 Milliarden Euro an die Braunkohle-Betreiber RWE und Leag hat die Regierung gleich vertraglich ausschließen wollen, dass es zu weiteren Klagen oder internationalen Schiedsverfahren kommt. Ob diese Summe nicht doch etwas zu hoch gegriffen ist, wird letztlich noch die EU-Kommission in ihrer Beihilfeprüfung klären müssen.

Die Streitigkeiten haben aber eine noch viel größere Baustelle entpuppt: den internationalen Energiecharta-Vertrag (ECT). Auf dessen Grundlage hatte nicht nur Vattenfall die Bundesrepublik verklagt, auch etwa RWE klagt mit Verweis auf dieses Dokument gegen den Kohleausstieg in den Niederlanden. Im Zuge des Green Deals der EU dürften Energiekonzerne in dem Mitte der 1990er geschlossenen Vertrag noch in vielen Ländern eine Möglichkeit sehen, mehr Schadenersatz herauszuholen. Kein Wunder, dass die EU nun auf eine Reform des Vertrags drängt, um den Kampf gegen den Klimawandel nicht auszubremsen. Hier könnte sich auch die Bundesrepublik einsetzen, was allerdings nicht einfach werden dürfte: Denn einer Änderung müssten alle 51 Mitgliedsstaaten der Charta zustimmen.

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March 05, 2021 12:11 ET (17:11 GMT)