BERLIN/FRANKFURT (dpa-AFX) - Das aktuelle Chaos im europäischen Luftverkehr ist nach Auffassung der Gewerkschaft Verdi eine Folge des überzogen harten Wettbewerbs zu Lasten der Beschäftigten. Die Corona-Pandemie habe die Situation zwar noch verschärft, aber grundsätzlich seien die Probleme schon zuvor offen sichtbar gewesen, sagte die Verdi-Vizevorsitzende Christine Behle am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. "Die Arbeitgeber haben den Bogen überspannt, so dass kaum noch jemand in der Luftfahrt arbeiten will."

Behle sagte: "Das System ist ziemlich marode. Die Tickets decken nicht die Kosten und wir haben unterirdische Arbeitsbedingungen. Irgendjemand muss für das Fliegen zahlen. Bislang war es das Personal. Das kann nicht so bleiben."

Mit der Liberalisierung seit Mitte der 1990er-Jahre seien die Arbeitsbedingungen in der Luft und am Boden massiv verschlechtert und die Gehälter gedrückt worden, kritisierte die Gewerkschafterin. Die Schaffung von Konkurrenzsituationen etwa bei der Flugzeugabfertigung habe zu Billigst-Ausschreibungen und einem kontinuierlichen Lohnverfall geführt. Zudem habe die Zersplitterung der verschiedenen Dienstleistungen ein massives Steuerungsproblem an den Flughäfen hervorgebracht.

Airlines wie Flughäfen hätten den schnellen Hochlauf des Verkehrs in diesem Sommer falsch eingeschätzt und zudem das vorhandene Personal nicht vollständig gehalten. Behle kritisierte insbesondere die Abfindungsprogramme für ältere Beschäftigte. "Die Unternehmen haben die Chance gewittert, erfahrene und entsprechend teure Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen loszuwerden. Da muss man sich jetzt nicht wundern, wenn etwas nicht klappt."

Verdi versuche, mit Tarifverträgen gegenzusteuern, sagte Behle. Bei den Luftsicherheitskräften seien in den vergangenen Jahren hohe Lohnsteigerungen durchgesetzt worden, um die Tätigkeit attraktiver zu machen. Für das Bodenpersonal verhandele man bereits seit 2018 über einen Branchentarifvertrag, der dann für alle rund 30 Anbieter gleichermaßen gelten würde. Hier sei die Pandemie dazwischen gekommen, sodass nun für Anfang 2023 mit einem Abschluss gerechnet werde. Ziel sei es, einen Wettbewerb über die Lohnkosten künftig zu verhindern.

Sie blicke mit Sorge auf die Situation bei der Lufthansa, erklärte die stellvertretende Aufsichtsratvorsitzende des Unternehmens vor der für Mittwoch einberufenen Sitzung des Kontrollgremiums. Sie höre wegen der Dauerbelastung von Krankenständen in einzelnen Einheiten von bis zu 40 Prozent. Auch nähmen die tätlichen und psychischen Angriffe auf das Personal besorgniserregend zu. "Vom Management wollen wir erfahren, welche konkreten Handlungsprogramme sie haben und wie das Ansehen des Unternehmens nach außen gewahrt werden kann."/ceb/DP/mis