Referat

Sperrfrist

29. März 2022, 18.30 Uhr

Makroprudenzielle Politik über die Pandemie hinaus: Bilanz und Ausblick

International Center for Monetary and Banking Studies

Fritz Zurbrügg

Vizepräsident des Direktoriums Schweizerische Nationalbank Genf, 29. März 2022 © Schweizerische Nationalbank, Bern, 2022 (Referat auf Englisch)

Der Referent dankt Angela Abbate für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Vortrags. Sein Dank geht auch an Toni Beutler, Robert Bichsel, Maja Ganarin, Jacqueline Thomet und Martin Straub sowie an die Sprachendienste der SNB.

Sehr geehrter Professor Panizza, sehr geehrte Damen und Herren

Vielen Dank, Professor Panizza, für die Einladung zur Teilnahme an der «Public Lecture Series» des International Center for Monetary and Banking Studies (ICMB) in Genf. Ich freue mich sehr, wieder hier zu sein, zumal dies die erste Vorlesung nach der pandemiebedingten zweijährigen Pause ist.

Die Auswirkungen der Pandemie scheinen inzwischen abgeklungen zu sein, dafür erleben wir zurzeit eine andere tragische Entwicklung. Ich bin äusserst besorgt über Russlands Krieg gegen die Ukraine und möchte dem ukrainischen Volk mein tiefes Mitgefühl aussprechen.

In meinen Ausführungen heute Abend werde ich über makroprudenzielle Politik und die zunehmenden Herausforderungen für die Finanzstabilität sprechen - zwei Themen, die nach wie vor von höchster Relevanz sind.

In den letzten Monaten haben die Schweiz und andere Länder die Phase der akkommodierenden makroprudenziellen Politik hinter sich gelassen. In vielen Ländern wurden die Lockerungen der Kapitalanforderungen für Banken, die während der Pandemie eingeführt wurden, wieder rückgängig gemacht. Zudem haben verschiedene Länder auch Schritte zur Verschärfung der makroprudenziellen Politik eingeleitet. Was sind die Gründe für diesen Richtungswechsel? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Wirtschaft steht heute an einem ganz anderen Punkt als zu Beginn der Pandemie vor rund zwei Jahren.

Damals erlebte die Weltwirtschaft einen beispiellosen Schock, und die Unsicherheit über die wirtschaftlichen Folgen war enorm. Die Regierungen und Zentralbanken reagierten auf diesen Schock mit fiskal- und geldpolitischen Lockerungen in noch nie dagewesenem Umfang. Diese Stützungsmassnahmen sowie die Impfprogramme trugen massgeblich dazu bei, die Weltwirtschaft auf den Erholungspfad zu führen.

Rückblickend können wir aus Sicht der Finanzstabilität sagen, dass die Fähigkeit der Banken, ihre Rolle als Kreditgeber für die Realwirtschaft ohne Unterbruch auszuüben, zusätzlich zur Erholung beitrug. Dies war hauptsächlich den seit der globalen Finanzkrise aufgebauten substanziellen Kapitalpuffern zu verdanken, welche die Widerstandskraft des Bankensektors erhöhten, sowie den Stützungsmassnahmen, die Schuldnern bei der Überbrückung ihrer Liquiditäts- und Einkommensengpässe halfen. Die makroprudenzielle Politik trug zusätzlich zur Stützung bei: Erstmals seit der globalen Finanzkrise wurde in den meisten Ländern ein expansiver Kurs eingeschlagen; dies führte zu gelockerten Kapitalanforderungen, was wiederum die Kreditvergabe unmittelbar begünstigte.

Die Gründe, die zu dieser akkommodierenden makroprudenziellen Politik führten, sind heute nicht mehr gegeben. Gemäss unserer geldpolitischen Lagebeurteilung von letzter Woche sollte sich die weltweite Konjunkturerholung fortsetzen, wenn auch etwas gedämpft aufgrund des Kriegs in der Ukraine. Die Wachstumsraten in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften bleiben dieses Jahr voraussichtlich über dem Durchschnitt, und die Arbeitslosenquoten sinken wieder auf das Vor-Pandemie-Niveau. Gleichzeitig nehmen derzeit jedoch in zahlreichen Ländern die Verwundbarkeiten des Finanzsystems zu. Es gibt Anzeichen von überzogenen

Bewertungen an den Aktien- und Immobilienmärkten, und die Unternehmens- und Staatsverschuldung ist weltweit hoch. Dies erhöht die Verwundbarkeit des Bankensektors gegenüber Korrekturen an diesen Märkten, ausgelöst etwa durch einen plötzlichen Zinsanstieg oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Aussichten.

Als Zentralbank mit dem Auftrag, zur Finanzstabilität beizutragen, verfolgt die Schweizerische Nationalbank diese Entwicklungen aufmerksam. Wir konzentrieren uns dabei insbesondere auf den Schweizer Immobilien- und Hypothekarmarkt, da sich Anzeichen von Verwundbarkeiten an diesem Markt mehren und er für das Schweizer Bankensystem von grosser Bedeutung ist.

Bevor ich im Detail auf die gegenwärtigen Verwundbarkeiten im Ausland und in der Schweiz eingehe, möchte ich Bilanz ziehen bezüglich unserer bisherigen Erfahrungen mit der makroprudenziellen Politik. Dazu möchte ich zuerst die Ziele der makroprudenziellen Politik in Erinnerung rufen wie auch die Instrumente, mit denen diese erreicht werden sollen.

Makroprudenzielle Politik: Ziele und Instrumente

Ziele

Die globale Finanzkrise hat gezeigt, dass Finanzkrisen hohe Kosten verursachen können - sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch aus einer breiteren gesellschaftlichen Perspektive. Diese Erfahrung wird auch durch Forschungsergebnisse gestützt. Demnach sind mit einer Finanzkrise einhergehende Rezessionen tendenziell tiefer und länger als «normale» (nicht-finanzielle) Rezessionen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die vorhergehende Expansion durch ein überdurchschnittlich starkes Wachstum der Kredite und Immobilienpreise gekennzeichnet war.1 Ein stabiles Finanzsystem - oder anders ausgedrückt ein Finanzsystem, das seine wichtigsten Funktionen wahrnehmen kann und widerstandsfähig ist gegenüber Schocks - ist deshalb für ein stabileres Wirtschaftswachstum unerlässlich.

Die globale Finanzkrise führte uns ausserdem vor Augen, dass es zwei wichtige Risikodimensionen in Bezug auf die Finanzstabilität gibt: eine «strukturelle» Dimension, die von der Grösse und Vernetzung der einzelnen Finanzinstitute («Too big to fail»-Finanzinstitute) abhängt, und eine «zyklische» Dimension, die sich aus dem Auf- und Abbau von finanziellen Verwundbarkeiten ergibt. In diesem Referat konzentriere ich mich - aufgrund ihrer Relevanz im aktuellen Umfeld - auf diese «zyklischen» Risiken. Lassen Sie mich diese zyklischen Risiken an einem vereinfachten Beispiel verdeutlichen, das grob auf der in vielen Ländern beobachteten Dynamik vor und während der globalen Finanzkrise beruht, an die sich viele von Ihnen sicher noch gut erinnern. Steigende Immobilienpreise gehen meist mit einer grossen Dynamik beim Kreditwachstum und bei der Risikonahme der Banken einher. Dies wiederum erhöht die Verwundbarkeit des Bankensektors gegenüber einer

1 Siehe Jordà, O., M. Schularick und A. M. Taylor (2015), Leveraged bubbles, Journal of Monetary Economics, Vol. 76(S): 1-20, und

Jordà, O., M. Schularick und A. M. Taylor (2015), When Credit Bites Back, Journal of Money, Credit and Banking, 45: 3-28.

Korrektur der Immobilienpreise. Ein Schock, der zu einer Korrektur führt, kann auch sich gegenseitig verstärkende Effekte von sinkenden Preisen, Kreditausfällen und daraus resultierenden Verlusten bei Banken auslösen. Verfügen die Banken über keine ausreichende Kapitalbasis, um diese Verluste zu absorbieren, müssen sie womöglich ihre Bilanzgrösse verringern, was die Kreditvergabe an die Realwirtschaft beeinträchtigt. Dies verstärkt den ursprünglichen Schock und kann zu einem Einbruch der Wirtschaftsaktivität führen.

Mit den Folgen der globalen Finanzkrise wurde uns schmerzhaft bewusst, dass das Ignorieren von sich aufbauenden systemischen Risiken Kosten nach sich zieht. Deshalb taten sich nationale Regulatoren und internationale Institutionen zusammen und legten das Fundament für unser heutiges makroprudenzielles Rahmenwerk. Dieses umfasst zwei Arten von Massnahmen: einerseits solche, die dem Aufbau von Verwundbarkeiten entgegenwirken sollen, etwa indem ein exzessives Kreditwachstum und eine übermässige Verschuldung der Banken reduziert werden oder die durchschnittliche Qualität der Vermögenswerte der Banken verbessert wird. Andererseits - und meines Erachtens absolut unerlässlich - sind es Massnahmen, welche die Widerstandskraft des Bankensektors stärken sollen. Anders gesagt sollen sie sicherstellen, dass der Bankensektor über ausreichend Kapital verfügt, um Verluste zu absorbieren, die in einer Krise anfallen könnten, und dass er in der Lage ist, weiterhin und ohne staatlichen Unterstützungsbedarf Finanzdienstleistungen für die Realwirtschaft zu erbringen.

Dabei müssen wir uns im Klaren sein, dass die makroprudenzielle Politik Finanzkrisen nicht immer verhindern kann. Indem sie ihre Ziele verfolgt und insbesondere die Widerstandskraft des Bankensektors gewährleistet, sollte sie vielmehr die Wahrscheinlichkeit von Finanzkrisen verringern und im Krisenfall das Ausmass und die Dauer von Rezessionen beschränken. Die Gewährleistung der Widerstandskraft ist in der Schweiz besonders wichtig, da der Schweizer Bankensektor im Verhältnis zur Volkswirtschaft auch im internationalen Vergleich gross ist und einige wenige Banken eine dominante Rolle spielen.2

Instrumente

Zur Erreichung der erwähnten Ziele steht den makroprudenziellen Behörden eine breite Palette von Instrumenten zur Verfügung.

Um den Aufbau von Verwundbarkeiten einzudämmen, können Behörden auf Instrumente zurückgreifen, welche die Verschuldung auf einem nachhaltigen Niveau halten sollen. Beispiele für diese sogenannten schuldnerbasierten Instrumente sind Beschränkungen des Belehnungsgrads (Loan-to-Value, LTV) oder bei der Tragbarkeit (Loan-to-Income, LTI) sowie spezifische Vorgaben bezüglich Kreditlaufzeit und Amortisation. Diese Instrumente begrenzen insbesondere die Kredite an Haushalte, die nicht genügend persönliches Eigenkapital mitbringen oder deren Einkommen nicht ausreichen würde, um die

2 Per Ende 2020 betrugen die Aktiven des gesamten Bankensektors rund 3800 Mrd. Franken. Dies entspricht etwa 500% des Schweizer BIP, was im internationalen Vergleich eine hohe Quote ist.

Zinszahlungen zu leisten, falls die Zinsen über ein bestimmtes Niveau steigen. Diese Instrumente sollten deshalb das gesamte Kreditwachstum und damit indirekt auch das Wachstum der Wohnliegenschaftspreise reduzieren und so den Aufbau von Verwundbarkeiten eindämmen.

Um die Widerstandskraft des Bankensektors zu stärken, können die makroprudenziellen Behörden auch Instrumente einsetzen, die direkt auf das Kapital der Banken abzielen, sogenannte kapitalbasierte Instrumente. Diese Instrumente erhöhen das Kapital der Banken über die Mindestanforderungen hinaus. Mit anderen Worten schaffen sie einen Sicherheitspuffer, der in Stressphasen zur Abfederung von Schocks dient. Wichtige Instrumente in dieser Kategorie sind Kapitalpuffer, die von der Grösse einer Bank abhängig sind (z. B. Puffer für global systemrelevante Banken). Neben diesen strukturellen Instrumenten können die Behörden auf ein Instrument abstützen, das direkt von der Höhe der zyklischen Risiken an den Kreditmärkten abhängig ist: den antizyklischen Kapitalpuffer. Der Grundgedanke hinter dem antizyklischen Kapitalpuffer ist folgender: Die Banken sollen ihr Eigenkapital schrittweise aufstocken, wenn sich an den Kreditmärkten zyklische Risiken aufbauen und so ihre Widerstandskraft stärken. Bei einem allfälligen Abschwung können die Behörden den antizyklischen Kapitalpuffer deaktivieren, wie dies während der Pandemie in vielen Ländern geschah, und so Kapital freigeben, das die Banken zur Absorbierung von Verlusten oder zur Kreditvergabe an die Realwirtschaft verwenden können. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit einer Abwärtsspirale aufgrund einer notfallmässig erfolgenden Einschränkung bei der Kreditvergabe. Und schliesslich könnte die Aktivierung eines antizyklischen Kapitalpuffers die Kreditkosten erhöhen und damit das Kreditwachstum bremsen, was den Aufbau von Verwundbarkeiten eindämmt.

In der Theorie gibt es eine breite Palette möglicher Instrumente. In der Praxis werden die Ausgestaltung und Art der makroprudenziellen Instrumente in der Regel an die länderspezifischen Gegebenheiten angepasst, um ihre Akzeptanz und Wirksamkeit zu erhöhen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie wir dies in der Schweiz erreicht haben.

In der Schweiz teilen sich drei Behörden den Auftrag, zur Finanzstabilität beizutragen: die SNB, die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) sowie Bund und Verwaltung. Die Behörden haben die Banken in die Ausgestaltung der makroprudenziellen Instrumente miteinbezogen. So bauen die schuldnerbasierten Instrumente, die 2012 in der Schweiz eingeführt wurden, auf die zuvor schon bestehende Tradition qualitativer Selbstregulierungsrichtlinien der Schweizerischen Bankiervereinigung betreffend Hypothekarkreditvergabe. Die obengenannten Behörden und die Banken haben gemeinsam eine Ergänzung dieser qualitativen Richtlinien erarbeitet und quantitative Vorgaben zu Umfang und Dauer der Amortisation sowie zu den erforderlichen Eigenmitteln des Kreditnehmers festgelegt. Diese quantitativen Richtlinien gelten nun als

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SNB - Swiss National Bank published this content on 29 March 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 29 March 2022 16:43:01 UTC.