Referat

Sperrfrist

31. März 2022, 16.00 Uhr

Nach dem Libor: Eine neue Ära der Referenzzinssätze Virtueller Geldmarkt-Apéro

Andréa M. Maechler und Thomas Moser

Mitglied des Direktoriums / Stellvertretendes Mitglied des Direktoriums Schweizerische Nationalbank

Webcast, 31. März 2022 © Schweizerische Nationalbank, Zürich, 2022 (Referat auf Englisch)

Die Referenten danken Julia Baer, Lucas Fuhrer und Mico Loretan für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Vortrags. Ihr Dank geht zudem an Roman Baumann, Christoph Hirter, Cyrille Planner, Carolin Reiss, Jacqueline Thomet, Andreas Wehrli und Tanja Zehnder für ihre wertvollen Kommentare sowie an den Sprachendienst der SNB.

Meine sehr geehrten Damen und Herren

Auch im Namen meines Kollegen Thomas Moser heisse ich Sie herzlich willkommen zur Frühlingsausgabe 2022 des halbjährlich stattfindenden Geldmarkt-Apéros der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Die Rede und die anschliessende Podiumsdiskussion werden auf Englisch abgehalten, wobei Sie Ihre Fragen an die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion gerne auch auf Französisch oder Deutsch stellen können. Der Redetext wird auch auf Deutsch, Französisch und Italienisch auf der SNB-Webseite publiziert.

Bevor ich jedoch fortfahre, möchte ich innehalten und mit ihnen an die Opfer von Russlands Krieg gegen die Ukraine denken, der heute in die sechste Woche ging. Mein tiefstes Mitgefühl und meine aufrichtige Anteilnahme gehen an das ukrainische Volk sowie an alle von dieser humanitären Krise betroffenen Personen. Mögen der Krieg und das dadurch verursachte unermessliche menschliche Leid bald ein Ende nehmen.

Viele von Ihnen - ja, sehr wahrscheinlich die meisten von Ihnen im heutigen Publikum - sind sich der Tatsache bewusst, dass mit dem vergangenen Jahr vielerorts die Libor-Ära zu Ende gegangen ist. Mit dem Wegfall des Libors hat eine neue Ära der Referenz- oder Benchmark-Zinssätze begonnen.1 Dieser Übergang bedeutete für die Finanzmärkte ein Paradigmenwechsel. Die Ablösung des Libors durch neue Referenzzinssätze und insbesondere die Gewährleistung einer reibungslosen Umstellung waren nicht nur für die Marktteilnehmer, sondern auch für Zentralbanken, darunter die SNB, von grosser Bedeutung. In unserem heutigen Vortrag werden Thomas und ich auf einige zentrale Aspekte dieser Ablösung eingehen.

Lassen Sie uns zu Beginn der Rede einen Schritt zurücktreten und mit ein paar Gedanken zur allgemeinen Bedeutung von Referenzzinssätzen für eine moderne Volkswirtschaft beginnen. Dabei werden wir auch den Fragen nachgehen, warum und unter welchen Umständen gewisse Zinssätze den Status eines Referenzzinssatzes erlangen oder verlieren. Wir werden anschliessend festhalten, dass der Libor während mehrerer Jahrzehnte und für verschiedene Währungen der bedeutendste Referenzzinssatz war. Im Nachgang der globalen Finanzkrise von 2007 bis 2009 verlor der Libor mit der schwindenden Aktivität an den unbesicherten Geldmärkten sowie dem Bekanntwerden von Referenzzinsatz-Manipulationen jedoch zusehends seinen Status als Referenzzinssatz.2 Zudem gehen wir auf die Hauptunterschiede zwischen den alten Libor-Sätzen und den neuen Referenzzinssätzen ein und legen dabei einen speziellen Fokus auf den SARON, den Nachfolger des Frankenlibors. Zum Schluss erörtern wir, wie der Übergang zum SARON die Umsetzung der Geldpolitik der SNB beeinflusst hat.

  • 1 Die Begriffe «Referenzzinssatz» und «Benchmark-Zinssatz» werden häufig als Synonyme verwendet. In dieser Rede wird ausschliesslich der Begriff «Referenzzinssatz» verwendet.

  • 2 In unserem Vortrag werden wir uns auf die Entwicklung der Libor-Sätze konzentrieren und nicht auf die Entwicklung anderer unbesicherter Interbanken-Referenzzinssätze eingehen.

Die zentrale Bedeutung von Referenzzinssätzen für eine moderne Volkswirtschaft

Lassen Sie mich mit einem Gedankenexperiment beginnen. Gehen wir von einer Volkswirtschaft ohne Referenzzinssätze aus. Wie würde diese funktionieren? Betrachten wir dazu beispielsweise ein in der Schweiz weitverbreitetes Finanzprodukt: eine Hypothek mit variablem Zinssatz und quartalsweise stattfindenden Zinszahlungen. Bei einer solchen Hypothek werden die Zinszahlungen, die an einen Referenzzinssatz geknüpft sind, quartalsweise neu festgesetzt und können sich deshalb im Laufe der Zeit ändern.3 Eine zentrale Frage ist, wie diese quartalsweisen Zinszahlungen festgelegt würden, wenn es keine Referenzzinssätze gäbe. Die kurze Antwort lautet: Bei fehlenden Referenzzinssätzen würden die quartalsweisen Zinszahlungen vom Ergebnis bilateraler Verhandlungen zwischen dem Kreditnehmer, also dem Hausbesitzer, und der Kreditgeberin, also der Bank, abhängen. Das Verhandlungsergebnis selbst wäre von den Kosten der Kreditgeberin für die fortlaufende Finanzierung der Hypothek bestimmt. Diese Kosten sind der Kreditgeberin, aber nicht dem Kreditnehmer bekannt. Aufgrund dieser Informationsasymmetrie wären die bilateralen Verhandlungen sowohl für den Hausbesitzer als auch für die Bank höchstwahrscheinlich enorm komplex und zeitaufwendig. Zudem müssten die Verhandlungen während der gesamten Laufzeit der variablen Hypothek jedes Quartal wiederholt werden.

Diese repetitiven und intransparenten Verhandlungen würden mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Vielzahl oder gar eine Mehrheit der Kreditgeber und Kreditnehmer davon abhalten, Hypothekarverträge mit variablen Zinssätzen abzuschliessen. Zumindest würden diese Verhandlungen aber die Kosten für die Hypothek stark verteuern. Ausserdem würde sich diese Herausforderung nicht nur für variable Hypotheken, sondern für nahezu alle Finanzkontrakte mit einem variablen Zinssatz ergeben.4 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Finanzsektor ohne geeignete Referenzzinssätze vermutlich weniger effizient und kleiner wäre. Insofern sind Referenzzinssätze für ein gut funktionierendes Finanzsystem von zentraler Bedeutung.

Durch die Schaffung von Transparenz bezüglich Finanzierungskosten können Referenzzinssätze die Komplexität der Verhandlungen von Finanzkontrakten erheblich reduzieren.5 In Abbildung 1 ist dargestellt, wie Referenzzinssätze in der Praxis gebildet werden. Wie auf der linken Seite ersichtlich, werden in einem bestimmten Segment des Geldmarkts Transaktionen abgeschlossen. Anschliessend, wie in der Mitte der Grafik gezeigt, bündelt und aggregiert eine unabhängige Organisation, ein sogenannter Administrator, die Zinssätze dieser Transaktionen und publiziert sie als Referenzzinssatz. Dieser

  • 3 Zusätzlich zu diesen Finanzierungskosten fliessen weitere Kostenkomponenten, insbesondere kreditnehmerspezifische Risikoprämien, in die Bestimmung der gesamten quartalsweisen Zinszahlungen ein. Der Einfachheit halber wird in der Rede von diesen zusätzlichen Kosten abstrahiert.

  • 4 Von fehlenden Referenzzinssätzen wären wahrscheinlich auch Produkte mit fixen Zinssätzen indirekt betroffen.

  • 5 Siehe Duffie und Stein (2015).

Referenzzinssatz wird dann in einer breiten Palette von Finanzprodukten verwendet, wie auf der rechten Seite abgebildet.

Referenzzinssätze sind in Finanzprodukten wie Hypotheken oder Unternehmensanleihen mit unterschiedlichsten Laufzeiten nahezu allgegenwärtig. Für die Schweizer Wirtschaft war der Frankenlibor jahrzehntelang der bedeutendste Referenzzinssatz. Wie Abbildung 2 zeigt, hat eine Mehrheit der Banken den Frankenlibor, dargestellt mit gelben Balken, noch bis Ende 2020 als Hauptreferenzzinssatz verwendet. Erst im letzten Quartal des vergangenen Jahres hat der SARON, abgebildet mit roten Balken, den Frankenlibor in dieser Rolle abgelöst. Im Verlauf dieser Rede werden wir auf verschiedene Aspekte der Libor-Ablösung eingehen.

In Finanzkontrakten können Referenzzinssätze sowohl direkt als auch indirekt einfliessen. Im bereits erwähnten Beispiel einer Hypothek mit variablem Zinssatz wurde der Dreimonats-Libor oft direkt in den vertraglichen Bestimmungen zur Festlegung des Zinssatzes erwähnt. Referenzzinssätze können aber auch indirekt in Produkte mit fixen Zinssätzen einfliessen, beispielsweise über die Verwendung der Zinsstrukturkurve. Basiert eine solche Zinsstrukturkurve auf dem Markt für Zinsswaps, wird von einer Swapkurve gesprochen. Die Swapkurve wird von Banken häufig für die Bepreisung von Unternehmenskrediten und anderen Kapitalmarktprodukten mit fixen Zinssätzen verwendet.6 Die Referenzzinssätze, welche die Swapkurve in Schweizer Franken am kurzen Ende verankert haben, waren der Dreimonats- respektive der Sechsmonats-Libor, wie in Abbildung 3 dargestellt.7

Referenzzinssätze sind auch für die Übertragung der Geldpolitik über den sogenannten Zinskanal von entscheidender Bedeutung. Wenn eine Zentralbank beispielsweise beschliesst, ihre Geldpolitik zu lockern oder zu straffen, wird sie dazu ihren Leitzins entsprechend senken oder anheben. Mittels Geldmarktgeschäften steuert sie dann die Marktzinssätze inklusive der Referenzzinssätze in Richtung ihres neuen Ziels. Anders gesagt spiegeln sich Änderungen des geldpolitischen Kurses in den Referenzzinssätzen wider. Über die Zinserwartungen werden Änderungen der kurzfristigen Zinssätze anschliessend auf die längerfristigen Zinssätze, wie beispielsweise die Swapsätze, übertragen, die wiederum für die Realwirtschaft von grosser Bedeutung sind. Je breiter die Anwendung von Referenzzinssätzen in Finanzprodukten, desto schneller werden geldpolitische Impulse auf die Realwirtschaft übertragen.

Damit ein Zinssatz den Status eines Referenzzinssatzes erhält, müssen Marktteilnehmer bereit sein, diesen in Finanzkontrakten zu verwenden. Dies bedingt, dass der Referenzzinssatz alle relevanten Wirtschafts- und Finanzmarktinformationen auf eine zuverlässige und robuste Art beinhaltet. Zuverlässigkeit setzt voraus, dass die Erhebung und Aggregation der für die Berechnung des Referenzzinssatzes benötigten Daten sowie dessen Veröffentlichung anhand transparenter und klar definierter Prozesse erfolgen. Damit soll sichergestellt werden, dass der Referenzzinssatz nicht von den Marktteilnehmern manipuliert werden kann. Robustheit

  • 6 Die Swapkurve ist für den Schweizer-Franken-Kapitalmarkt besonders wichtig. Alternativen, wie beispielsweise eine Staatsanleihenkurve, die normalerweise in anderen Währungen verwendet werden, sind in Schweizer Franken nicht liquide genug, um als Preisreferenz zu dienen.

  • 7 In vielen anderen Währungen wurde der Dreimonats-Libor als Anker verwendet.

wiederum setzt voraus, dass der Referenzzinssatz auf tatsächlichen und beobachtbaren Transaktionen an einem liquiden Markt, der die tatsächlichen Finanzierungskonditionen widerspiegelt, basiert. Je besser ein Referenzzinssatz die beiden Kriterien der Zuverlässigkeit und Robustheit erfüllt, desto grösser ist seine mögliche Rolle im Finanzsystem.8

Lassen Sie mich diese allgemeinen Überlegungen in zwei Hauptpunkten zusammenfassen: Erstens können mittels Referenzzinssätzen grosse Mengen von marktrelevanten Informationen über Finanzierungsbedingungen gebündelt und in einem einzigen Zinssatz öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Dies wiederum reduziert die Transaktionskosten an den Finanzmärkten erheblich, insbesondere die Verhandlungskosten. Zweitens müssen Referenzzinssätze auf zuverlässige und robuste Art und Weise ermittelt werden. Wird eines dieser beiden Kriterien nicht erfüllt, kann der Zinssatz seinen Status als Referenzzinssatz verlieren.

Aufstieg und Fall des Libors als Referenzzinssatz

Anfang der 1970er-Jahre, während einer längeren Phase des raschen und weltweiten Wachstums der Finanzmärkte, entstand für verschiedene Währungen und Produkte ein Bedarf an Referenzzinssätzen. Der Libor, ein Akronym für London interbank offered rate, setzte sich dabei als Referenzzinssatz durch. Der Libor war äusserst effizient und einfach, da er auf der Grundlage von Meldungen diverser globaler Banken über die Zinssätze, zu denen sich diese sogenannten Panel-Banken Geld am unbesicherten Interbankenmarkt leihen konnten, berechnet wurde. Der Libor gab die vorherrschenden Bedingungen an den unbesicherten Interbankenmärkten während langer Zeit akkurat wieder und galt zudem allgemein als zuverlässig und robust. Aus diesen Gründen wurde er mehrere Jahrzehnte lang für die Bepreisung verschiedenster Finanzprodukte verwendet.

Die globale Finanzkrise von 2007 bis 2009 hatte weltweit zahlreiche dauerhafte Auswirkungen für Finanzinstitute und das Finanzsystem. Eine dieser Auswirkungen ist für das Thema der heutigen Rede von besonderer Bedeutung: die Erkenntnis, dass Banken ihre Gegenpartei- und Liquiditätsrisiken, inklusive der eingegangenen Risiken gegenüber anderen Banken, besser verstehen und steuern müssen. Daraus resultierte weltweit eine Verlagerung vom unbesicherten zum besicherten Interbankenmarkt. Der damit verbundene Rückgang der Handelsaktivität im unbesicherten Segment des Interbankenmarkts manifestierte sich insbesondere am Frankengeldmarkt rasch.9

Mit der schwindenden Aktivität am unbesicherten Interbankenmarkt verschlechterte sich der Informationsgehalt und damit verbunden auch die Robustheit des Libors. Die veröffentlichten Libor-Sätze basierten zunehmend nur noch auf sogenannten Experteneinschätzungen. Wie Abbildung 4 zeigt, bestand die Berechnungsgrundlage für die Frankenlibor-Sätze im Jahr 2019, als rote Balken auf der linken Seite dargestellt, für sämtliche Laufzeiten ausschliesslich

  • 8 Siehe Brändli, Guggenheim und Jüttner (2016); Nakaso (2013); IOSCO (2013).

  • 9 Siehe Guggenheim, Kraenzlin und Schumacher (2011).

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SNB - Swiss National Bank published this content on 31 March 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 31 March 2022 14:05:34 UTC.