Referat

Sperrfrist

17. November 2022,

18.30 Uhr

Rückkehr zu positiven Zinsen: Warum «Reserve Tiering»?

Geldmarkt-Apéro

Andréa M. Maechler und Thomas Moser

Mitglied des Direktoriums / Stellvertretendes Mitglied des Direktoriums Schweizerische Nationalbank

Genf, 17. November 2022

© Schweizerische Nationalbank (Referat auf Englisch)

  • Die Referenten danken Florian Böser, Lucas Fuhrer und Mico Loretan für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Vortrags. Ihr Dank geht zudem an Dirk Faltin, Cyrille Planner, Michael Schäfer, Jacqueline Thomet und Tanja Zehnder für ihre wertvollen Kommentare sowie an den Sprachendienst der SNB für die Übersetzung des Textes.

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Meine sehr geehrten Damen und Herren

Auch im Namen meines Kollegen Thomas Moser begrüsse ich Sie herzlich zum diesjährigen Geldmarkt-Apéro der Schweizerischen Nationalbank (SNB) in Genf. Wir freuen uns sehr, dass Sie heute Abend so zahlreich dabei sind, sei es vor Ort oder virtuell.

Seit unserem letzten Treffen in diesem Rahmen vor einem Jahr ist die Inflationsbekämpfung zur wichtigsten Aufgabe von Zentralbanken weltweit geworden. Viele Länder haben einen Inflationsanstieg erlebt, mit dessen Ausmass und Geschwindigkeit nur wenige gerechnet haben. Ein grosser Teil dieses Anstiegs ist auf die anhaltenden Unterbrechungen der globalen Lieferketten infolge der Corona-Pandemie zurückzuführen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat - neben dem Verursachen von unermesslichem menschlichen Elend - durch den Effekt auf die Energie- und Lebensmittelpreise den Inflationsdruck verstärkt. In den letzten Monaten hat sich die Inflation als hartnäckiger und breitflächiger erwiesen als ursprünglich erwartet. Deshalb haben Zentralbanken begonnen, ihre Politik zu straffen, sodass wir auf globaler Ebene eine geldpolitische Kehrtwende erlebt haben.

Auch die SNB hat ihre Geldpolitik gestrafft und ihren Leitzins zurück in den positiven Bereich gehoben. Mit dem Übergang ins Positivzinsumfeld musste die SNB einen neuen Ansatz für die Umsetzung ihrer Geldpolitik am Geldmarkt wählen. Unser neuer Ansatz umfasst zwei Elemente: «Reserve Tiering», d.h. eine abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben, und eine Abschöpfung von Sichtguthaben durch Offenmarktoperationen. Der neue Ansatz berücksichtigt die strukturellen Veränderungen, die am Geldmarkt stattgefunden haben, seit sich die SNB letztmals in einem Positivzinsumfeld befand. Insbesondere erlaubt er uns, unter den veränderten Bedingungen die kurzfristigen besicherten Geldmarktzinssätze in Franken nahe am SNB-Leitzins zu halten.

Die heutige Veranstaltung bietet eine ideale Gelegenheit, unseren neuen Ansatz im Detail zu erörtern. Wir werden zuerst auf die Gründe für die Wahl des neuen Umsetzungsansatzes eingehen und danach einen Überblick geben, wie sich das neue Konzept bisher bewährt hat.

Warum ist die SNB zu einem positiven Leitzins zurückgekehrt?

Ich beginne mit einem Überblick, warum die SNB ihre Geldpolitik gestrafft hat.

Während der letzten rund drei Jahrzehnte und noch bis vor kurzem war die Konsumentenpreisinflation niedrig und relativ stabil. Folie 2 zeigt die Inflationsraten des Konsumentenpreisindexes in den USA, der Eurozone und der Schweiz seit 1980. In den 30 Jahren von 1990 bis 2020 betrug die Inflationsrate in der Schweiz - als rote Linie abgebildet - durchschnittlich lediglich 1,0% pro Jahr. Ende 2020 hingegen hat sich das Blatt deutlich gewendet, und die Inflation hat weltweit kräftig angezogen. In der Schweiz ist die Inflation ebenfalls gestiegen, wenn auch etwas später und nicht so stark wie in anderen Volkswirtschaften. Die jährliche Konsumentenpreisinflation in der Schweiz liegt seit Mitte dieses Jahres bei über 3% und hat damit das höchste Niveau seit Anfang der 1990er-Jahre erreicht. Gemäss den neusten Zahlen des Konsumentenpreisindexes beträgt die Inflationsrate

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in der Schweiz aktuell 3,0%. Damit liegt sie oberhalb des Bereichs, den die SNB mit Preisstabilität gleichsetzt. Konkret zielt die SNB auf einen Anstieg des Konsumentenpreisindexes von weniger als 2,0% pro Jahr ab.

Als sich der Inflationsdruck aus dem Ausland in der zweiten Hälfte des letzten Jahres verstärkte, entschied die SNB an ihrer Lagebeurteilung im Dezember 2021, eine nominale Aufwertung des Frankens in einem gewissen Ausmass zuzulassen. Zusätzlich strafften wir ab Juni dieses Jahres unsere Geldpolitik, indem wir den SNB-Leitzins anhoben.1 Am 16. Juni erhöhten wir den SNB-Leitzins - die blaue Linie auf Folie 3 - um 50 Basispunkte auf −0,25% an. Es war dies die erste Erhöhung seit 15 Jahren und somit ein wahrlich historischer Moment für uns. Am 22. September hoben wir dann den Leitzins um weitere 75 Basispunkte an, sodass er wieder im positiven Bereich bei 0,5% zu liegen kam. Dies war ein weiterer historischer Moment für uns, denn damit endete die Phase negativer Leitzinsen in der Schweiz, die seit Januar 2015 angedauert hatte.

Warum ist die Umsetzung der Geldpolitik wichtig?

Unser Zinsschritt im September (der rote Pfeil auf Folie 4) signalisierte, dass wir die kurzfristigen besicherten Geldmarktzinssätze in Franken - insbesondere den aussagekräftigsten Geldmarktzinssatz, nämlich den SARON - nahe am neu positiven SNB- Leitzins sehen möchten. Die Ankündigung einer Leitzinsänderung selbst führt nicht in jedem Fall dazu, dass Geldmarktzinssätze steigen, schon gar nicht in einem Umfeld mit einem grossen Gesamtbestand an Sichtguthaben. Damit die Geldmarktzinsen wie gewünscht steigen, muss die Geldpolitik auf eine Art und Weise umgesetzt werden, dass sich die Geldmarktzinssätze in Franken dem SNB-Leitzins annähern. Was ist dafür nötig? Oder in Bezug auf die Grafik auf Folie 4 gemünzt: Was bedarf es, damit sich der blaue Pfeil verwirklicht?

Mit dem Übergang in ein positives Zinsumfeld hat sich das Ziel, das wir bei der Umsetzung unserer Geldpolitik verfolgen, nicht geändert. Das Ziel - auf Folie 5 links festgehalten - ist weiterhin, die kurzfristigen besicherten Geldmarktzinssätze in Franken nahe am SNB-Leitzins zu halten. Aus Gründen, die wir gleich erläutern werden, musste die SNB jedoch den Ansatz zur Umsetzung ihrer Geldpolitik anpassen. Wie auf Folie 5 rechts ersichtlich, waren konkret zwei Elemente notwendig: die abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben («Reserve Tiering») und die Abschöpfung von Sichtguthaben.

Bevor wir im Detail auf die Wirkungsweise dieser zwei Elemente eingehen, fragen Sie sich nun vielleicht, warum wir nicht wieder den gleichen Umsetzungsansatz nutzen wie vor der globalen Finanzkrise. Damals kontrollierten wir die Geldmarktzinsen in einem Umfeld positiver Zinsen, indem wir das Angebot an Sichtguthaben begrenzten und nahe am

1 Seit Juni 2019 kommuniziert die SNB ihre Zinsentscheidung über den SNB-Leitzins. Indem sie den SNB-Leitzins festlegt, signalisiert die SNB das angestrebte Niveau für die Zinssätze am besicherten Geldmarkt. In der rund 20-jährigen Periode vor Juni 2019 hat die SNB in ihrer Lagebeurteilung ein Zielband für den Dreimonats-Libor festgelegt und anschliessend darauf hingearbeitet, diesen Zinssatz mittels Geldmarktoperationen üblicherweise in der Mitte des Zielbands zu halten.

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strukturellen Bedarf der Banken für Sichtguthaben hielten.2 Im Nachgang der globalen Finanzkrise änderten sich die Bedingungen am Geldmarkt fundamental und dauerhaft. Insbesondere die zwei folgenden strukturellen Änderungen haben unsere Entscheidung für den neuen Ansatz zur Umsetzung der Geldpolitik beeinflusst.3

Erstens ist der Bestand an Sichtguthaben seit der globalen Finanzkrise massiv angestiegen.4 Deshalb ist der Geldmarkt heute geprägt durch ein strukturelles Überangebot an Sichtguthaben statt durch ein strukturelles Defizit an Sichtguthaben. Eine Rückkehr zum Status quo vor der globalen Finanzkrise hätte bedingt, dass wir den Bestand an Sichtguthaben in einem sehr grossen Umfang reduzieren.5 Angesichts des substanziellen Volumens und der langen Zeitspanne, die für eine solche Reduktion erforderlich wäre, bezweifeln wir, dass wir mit diesem Ansatz in der Lage gewesen wären, die Geldmarktzinssätze mit sofortiger Wirkung zu steuern.

Zweitens hat sich die Landschaft der Referenzzinssätze in Franken wesentlich geändert. So wurde insbesondere der Libor durch den SARON, den neuen Referenzzinssatz in Franken, abgelöst.6 Der SARON - das Akronym steht für Swiss Average Rate Overnight - wird basierend auf den effektiven Transaktionen des privaten Sektors im Overnight-Segment des Frankenrepomarkts berechnet. Um eine robuste Berechnungsgrundlage für den SARON sicherzustellen, ist daher eine ausreichende Interbankenaktivität nötig.

Warum wendet die SNB «Reserve Tiering» an?

Lassen sie mich nun im Detail erklären, wie unser Ansatz funktioniert und insbesondere warum beide Elemente des Ansatzes nötig sind, um unsere Geldpolitik in einem positiven Zinsumfeld umzusetzen. Wir beginnen mit dem ersten neuen Element unseres Umsetzungsansatzes, der abgestuften Verzinsung von Sichtguthaben.

Wie ich darlegen werde, können wir durch die Verzinsung von Sichtguthaben die Geldmarktzinssätze in einem Umfeld mit positiven Zinsen und einem grossen Bestand an Sichtguthaben steuern.7 Dabei ist jedoch sehr wichtig, dass die SNB - im Gegensatz zu vielen

  1. Zu diesem Zeitpunkt war der strukturelle Bedarf hauptsächlich getrieben durch das Mindestreserveerfordernis für Banken und ihr Bedürfnis, genügend Sichtguthaben zur Erfüllung aller Zahlungsverpflichtungen zu halten.
  2. Berentsen et al. (2018) analysieren verschiedene Ansätze für die Umsetzung der Geldpolitik unter der Annahme eines grossen Bestands an Sichtguthaben.
  3. Auch die Unsicherheit über das Niveau und die Variabilität des strukturellen Bedarfs hat in dieser Zeit zugenommen. Diese Unsicherheit ist teilweise durch neue Liquiditätsvorschriften bedingt, die im Nachgang der globalen Finanzkrise eingeführt wurden.
  4. Der Bestand an Sichtguthaben könnte über einen Verkauf von Fremdwährungen, die in den vergangenen Jahren gekauft wurden, und über eine Abschöpfung von Sichtguthaben durch Offenmarktoperationen bewerkstelligt werden. In beiden Fällen könnten negative Auswirkungen, wie z.B. eine substanzielle Aufwertung des Frankens, nicht ausgeschlossen werden.
  5. Der Libor, der während mehrerer Jahrzehnte der bedeutendste Referenzzinssatz war, wurde für viele Währungen per Ende 2021 eingestellt. Der SARON hat den Franken-Libor vollständig abgelöst. Maechler und Moser (2022) diskutieren den Übergang vom Libor zum SARON.
  6. Auch von Januar 2015 bis September 2022 haben wir Sichtguthaben verzinst. Während dieser Zeit haben wir die Sichtguthaben, die Banken bei der SNB halten, negativ verzinst. Um die Belastung für die Banken zu begrenzen, haben wir Sichtguthaben bis zu einem bankspezifischen Freibetrag von der negativen Verzinsung ausgenommen. Maechler und Moser (2020) diskutieren die geldpolitische Umsetzung der SNB im Negativzinsumfeld.

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anderen Zentralbanken, die ebenfalls Sichtguthaben verzinsen - nicht denselben Zinssatz auf alle Sichtguthaben anwendet. Stattdessen nutzen wir eine abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben. Um zu illustrieren, wie die abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben funktioniert, lassen Sie uns das auf Folie 6 abgebildete, stark vereinfachte Bankensystem betrachten.

Die SNB gewährt jeder Bank, die Sichtguthaben hält, eine sogenannte Limite. Diese ist auf der Folie als rote vertikale Linie eingezeichnet. Die individuelle Limite einer Bank berechnet sich jeweils aus ihrem Mindestreserveerfordernis, sodass sie in der Regel nicht der Höhe der Sichtguthaben dieser Bank entspricht.8 Folglich kann zwischen zwei Arten von Banken unterschieden werden: jenen mit Sichtguthaben über ihrer Limite (abgebildet in der oberen Hälfte) und jenen mit Sichtguthaben unter ihrer Limite (abgebildet in der unteren Hälfte). Die SNB verzinst derzeit Sichtguthaben bis zur Limite (dunkelblau abgebildet) zum SNB- Leitzins, der aktuell 0,5% beträgt. Sichtguthaben, welche die Limite übersteigen (hellblau abgebildet), werden hingegen zum SNB-Leitzins abzüglich eines Zinsabschlags verzinst. Aktuell beträgt der Zinssatz auf Sichtguthaben über der Limite 0%. Im weiteren Verlauf der Rede bezeichnen wir die Sichtguthaben über der Limite als «überschüssige Sichtguthaben».

Schauen wir uns nun die Banken mit überschüssigen Sichtguthaben näher an. Wie eben erwähnt, würde ein Teil ihrer gesamten Sichtguthaben zu 0% verzinst. Diese Banken haben daher einen starken Anreiz, einen Teil ihrer überschüssigen Sichtguthaben zu einem höheren Zinssatz als 0% an andere Banken zu verleihen. Banken wiederum, die Sichtguthaben unter ihrer Limite halten, haben einen Anreiz, Sichtguthaben bis zu ihrer Limite zu einem Zinssatz unter 0,5% zu leihen und diese Sichtguthaben bei der SNB zu einem Zinssatz von 0,5% zu halten. Eine solche Transaktion (wie auf Folie 7 abgebildet) ist für beide Arten von Banken vorteilhaft. Jene Bank, die Sichtguthaben verleiht, erhält den positiven Interbankenzins auf ihren überschüssigen Sichtguthaben, während die Bank, die Sichtguthaben leiht, die Differenz zwischen dem SNB-Leitzins und dem Interbankenzins erhält. Die abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben schafft daher einen Anreiz zum Interbankenhandel und unterstützt damit die Interbankenaktivität am Geldmarkt; dies wiederum stellt eine robuste Berechnungsgrundlage für den SARON sicher.9

Anders gesagt: Würden wir keine abgestufte Verzinsung von Sichtguthaben anwenden und stattdessen alle Sichtguthaben zu demselben Zinssatz verzinsen, hätten Marktteilnehmerinnen kaum einen Anreiz, miteinander zu handeln. In der Folge würde die Interbankenaktivität am Frankengeldmarkt drastisch zurückgehen. Dies aus zwei Gründen: Erstens haben die meisten Marktteilnehmerinnen immer noch einen sehr hohen Bestand an Sichtguthaben. Zweitens

  1. Für jede Bank, die der Mindestreservepflicht unterliegt, entspricht die individuelle Limite dem laufenden Durchschnitt der Mindestreserveerfordernisse der letzten 36 Unterlegungsperioden, multipliziert mit dem aktuell geltenden Faktor für die Limite. DasMerkblatt zur Verzinsung von Sichtguthabenenthält weiterführende Informationen.
  2. Die Erkenntnis, dass «Reserve Tiering» den Interbankenhandel fördert, haben wir in der Zeit gewonnen, als unser Leitzins negativ war. Da wir einen negativen Zinssatz auf Sichtguthaben anwendeten, welche die bankspezifischen Freibeträge überstiegen, wendeten wir in dieser Zeit im Grunde genommen ebenfalls eine abgestufte Verzinsung an. Fuhrer et al. (2021) analysieren die geldpolitische Umsetzung mittels einer abgestuften Verzinsung von Sichtguthaben theoretisch und empirisch.

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SNB - Swiss National Bank published this content on 17 November 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 17 November 2022 17:48:02 UTC.