Referat

Sperrfrist

29. April 2022, 10.00 Uhr

Welche Folgen hat der Krieg in der Ukraine für die Geldpolitik der Nationalbank?

114. ordentliche Generalversammlung der Aktionärinnen und Aktionäre der Schweizerischen Nationalbank

Thomas J. Jordan

Präsident des Direktoriums* Schweizerische Nationalbank Bern, 29. April 2022 © Schweizerische Nationalbank

* Der Referent dankt Claudia Aebersold Szalay und Petra Gerlach für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes. Sein Dank geht auch an Carlos Lenz, Alexander Perruchoud, Michael Schäfer, Tanja Zehnder und den Sprachendienst der SNB.

Frau Bankratspräsidentin

Sehr geehrte Aktionärinnen und Aktionäre Liebe Gäste

Ich begrüsse Sie herzlich zu unserer Generalversammlung und freue mich sehr, dass wir uns dieses Jahr wieder persönlich begegnen können. Die weltpolitische Lage hat sich in den letzten Monaten grundlegend geändert. Der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert uns alle. Unsere Gedanken sind bei den Opfern dieses furchtbaren Kriegs.

Vor diesem Leid verblassen Erwägungen bezüglich der wirtschaftlichen Auswirkungen. Dennoch sind auch solche Überlegungen für die Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz wichtig, und die Nationalbank setzt sich deshalb intensiv mit den Folgen des Kriegs auseinander. Zum einen müssen wir die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen richtig einordnen. Zum anderen müssen wir uns auch mit Fragen beschäftigen, die die längere Frist betreffen.

Ich werde in meiner Rede zunächst auf die eng verflochtene Weltwirtschaft eingehen, wie wir sie bis vor Kurzem gekannt haben, den Wohlstandsgewinn, den sie gebracht hat, und ihre Auswirkungen auf die Geldpolitik. Dann werde ich erklären, wie die bereits heute spürbaren Folgen des Kriegs unsere aktuelle Geldpolitik beeinflussen. Anschliessend werde ich auf die Kehrseite der weltwirtschaftlichen Integration zu sprechen kommen, nämlich die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Ländern und Märkten. Am Schluss meiner Ausführungen werde ich einige Überlegungen dazu anstellen, was sich für die Geldpolitik ändern dürfte, wenn die globale wirtschaftliche Integration als Folge des Kriegs wieder abnehmen sollte.

Geldpolitik in einer integrierten Weltwirtschaft

Die Welt ist über die vergangenen Jahrzehnte wirtschaftlich immer mehr zusammengewachsen. Bis vor kurzem dachten wir, dass diese Verzahnung stetig enger werden würde. Zwar hat in der jüngeren Vergangenheit bereits der Handelskonflikt zwischen den USA und China gewisse Zweifel an der Beständigkeit der globalen Integration aufkommen lassen. Die Corona-Pandemie hat zudem die Mobilität eingeschränkt und die globalen Lieferketten strapaziert. Aber die aktuelle weltpolitische Konfrontation hat eine ganz andere Dimension. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat in vieler Hinsicht alte Gräben wieder aufgerissen. Und es stellt sich daher die Frage: Was wären die Konsequenzen, wenn die wegen des Kriegs bereits eingetretene wirtschaftliche Fragmentierung bestehen bleiben oder gar weiter fortschreiten würde?

Um dies zu beurteilen, möchte ich zunächst kurz auf die Globalisierung der letzten rund dreissig Jahre eingehen. Anfang der 1990er-Jahre begannen die ehemals abgeschotteten Staaten des Ostblocks, aber auch China und andere asiatische Länder, sich schrittweise zu öffnen. Die weltwirtschaftliche Integration seither war imposant. Der Wert der international gehandelten Waren und Dienstleistungen ist heute dreieinhalbmal grösser als damals. Das

durchschnittliche reale Pro-Kopf-Einkommen weltweit hat um zwei Drittel zugenommen. Der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, sank von knapp 40% auf 10%.

Möglich wurde dieser rasante Wohlstandsgewinn durch eine bessere Nutzung der drei Faktoren, die für Wachstum nötig sind: Arbeit, Kapital und Technologie.

Nach 1990 kam es zu einer verstärkten internationalen Arbeitsteilung. Die Länder spezialisierten sich auf das, was sie im Vergleich zu ihren Handelspartnern besonders gut konnten. Die Herstellung von arbeitsintensiven Produkten wurde in Länder mit relativ tiefem Lohnniveau verlagert. Die zunehmende Arbeitsteilung führte dazu, dass einerseits das Einkommen vor allem in den neuen Produktionsländern stieg und andererseits die Güterpreise weltweit sanken. Der Wettbewerb zwischen den Ländern verstärkte diesen Effekt noch zusätzlich.

Das Kapital, der zweite Wachstumsfaktor, konnte mit zunehmender wirtschaftlicher Integration global investiert werden. Ausländische Direktinvestitionen und Kredite halfen beim Bau von Produktionsstätten und Infrastrukturen in den neu geöffneten Regionen der Welt. Die hohen Ersparnisse der Industrienationen fanden somit produktive Verwendung im Aufholwachstum dieser Regionen.

Bleibt der Faktor Technologie. Die Integration der Weltwirtschaft führte zu einem enormen Wissenstransfer zwischen den Ländern, der die wirtschaftliche Entwicklung der ärmeren Nationen stark beschleunigte. Ausserdem bedeutete der Zuwachs an Menschen, die an der globalen Wirtschaft teilhatten, dass es auch viel mehr Ideen und Innnovationen gab.

Mehr und stärker spezialisierte Arbeitskräfte, besser und breiter investiertes Kapital und rasanter Wissensaustausch - all dies führte weltweit zu höherem Wirtschaftswachstum und mehr Wohlstand.

Die Globalisierung hatte auch grossen Einfluss auf die Geldpolitik. Die wichtigste Veränderung war hier die zunehmend globale Güterproduktion, die den Inflationsdruck reduzierte. Der Inflationsdruck sank ausserdem, weil die globale Wirtschaft ein Ansteigen der Nachfrage in einzelnen Ländern vergleichsweise leicht befriedigen konnte. In der weniger integrierten Wirtschaft des Kalten Kriegs hatte eine höhere Nachfrage jeweils rasch zu Engpässen und steigenden Preisen geführt.

Wegen des tieferen Inflationsdrucks konnten die Zentralbanken verstärkt auf ungünstige Konjunkturentwicklungen reagieren. Und dies war oft angebracht, wie der Blick zurück zeigt. Denn die globale Integration der Finanzmärkte förderte nicht nur das Wachstum, sondern führte auch dazu, dass lokale Krisen einfacher in andere Länder übertragen wurden. In den letzten fünfzehn Jahren lockerten die grossen Zentralbanken aufgrund solch globaler Krisen ihre Geldpolitik wiederholt massiv, um schwere Konjunktureinbrüche und anhaltend negative Inflationsraten zu verhindern. Diese Lockerungen geschahen zunächst über Zinssenkungen, dann aber zunehmend über unkonventionelle Massnahmen wie quantitative Lockerungen und, im Fall der Schweiz, Devisenmarktinterventionen.

Auch die Erweiterung des geldpolitischen Instrumentariums hat mit der Globalisierung zu tun. Eine Lockerung der Geldpolitik wird traditionellerweise mit einer Senkung des geldpolitischen Leitzinses unter sein neutrales Niveau erreicht. Umgekehrt verlangt eine Straffung ein Anheben über den neutralen Zins. Das Niveau dieses neutralen Zinses ergibt sich aus dem Angebot an Spargeldern und der Nachfrage nach diesen Geldern für Investitionszwecke. Zu Beginn der Globalisierung ergab sich zunächst ein hoher neutraler Zins, weil in den neu geöffneten Volkswirtschaften grosser Investitionsbedarf bestand. Mit zunehmendem Wohlstand und steigender Lebenserwartung begann aber auch das Angebot an Spargeldern stark zu wachsen, was den neutralen Zins sinken liess. Wenn Zentralbanken die Geldpolitik lockern wollten, mussten sie ihren Leitzins deshalb entsprechend niedrig ansetzen. Und da man Zinsen nicht beliebig tief senken kann, ohne irgendwann eine Flucht ins Bargeld zu verursachen, ergriffen viele Zentralbanken nach Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 unkonventionelle geldpolitische Massnahmen, indem sie verschiedene Aktiven kauften und ihre Bilanzen ausdehnten.

Dank dieses neuen, breiten Instrumentariums hatten die Zentralbanken auch während der Corona-Pandemie den nötigen Spielraum, um zur Stabilisierung der Wirtschaft beizutragen. Sie versorgten die Wirtschaft mit zusätzlicher Liquidität und hielten die Zinsen tief. Neben den geldpolitischen Massnahmen wirkten auch die teilweise sehr grossen fiskalpolitischen Hilfspakete expansiv. So wurde der durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Einbruch begrenzt und eine schnelle Erholung ermöglicht. Die Hilfsmassnahmen und die damit verbundene Liquiditätsausdehnung, der Nachholkonsum und die Lieferengpässe haben in der Folge aber vielerorts zu erhöhtem Inflationsdruck geführt. Und damit möchte ich mich der aktuellen Geldpolitik zuwenden.

Auswirkungen des Kriegs auf die aktuelle Geldpolitik

Viele Länder haben das Jahr 2022 mit Inflationsraten begonnen, die bereits deutlich höher lagen als in der jüngeren Vergangenheit. Seither haben das Kriegsgeschehen und die Sanktionen zu einem zusätzlichen markanten Anstieg der Energie- und Rohwarenpreise geführt. Als Resultat hat sich der Inflationsdruck global nochmals erhöht. Gleichzeitig hat der Krieg realwirtschaftliche Folgen, deren Ausmass noch schwer abzuschätzen ist. Die aktuellen Prognosen für Inflation und Wachstum sind daher sehr unsicher. Die Unsicherheit kann sich auch auf das Verhalten der Wirtschaftsakteure auswirken und die negativen Effekte des Kriegs verstärken.

Für die Geldpolitik ergeben sich eine Reihe von Fragen: Wie breit und anhaltend ist der gegenwärtige Inflationsdruck, und wie stark wird die globale Konjunktur gebremst? Greift die Inflation auch auf Waren und Dienstleistungen über, die nicht direkt von Pandemie und Krieg betroffen sind? Und werden auch die Löhne zu steigen beginnen, so dass eine klassische Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt würde?

In manchen Ländern gibt es bereits Anzeichen für eine sich verfestigende Inflationsdynamik, so dass einige Zentralbanken begonnen haben, ihre Geldpolitik zu straffen. Auf die

geldpolitische Situation in der Schweiz komme ich gleich zu sprechen. Ich möchte aber zuerst noch kurz auf das Wirtschaftswachstum eingehen.

Je engere Handelsbeziehungen ein Land mit der Ukraine und Russland hatte, desto stärker sind jetzt natürlich die direkten negativen Auswirkungen auf das Wachstum. Aber auch für Länder mit wenig Handelsbeziehungen in die Region wirkt der Krieg wegen der internationalen Verflechtungen wie Sand im Getriebe. All das bremst die Konjunktur, auch hierzulande. Wir rechnen für das aktuelle Jahr mit einem Schweizer BIP-Wachstum von 2,5%. Das ist ein halber Prozentpunkt weniger, als wir vor Kriegsausbruch erwartet hatten.

Der Inflationsdruck ist auch bei uns gestiegen, bislang aber vergleichsweise moderat. Die Inflation, die im Jahresdurchschnitt 2021 noch bei 0,6% gelegen hatte, betrug im März 2,4%. Wir definieren Preisstabilität als eine Situation, in der die Inflation auf mittlere Frist zwischen 0 und 2% liegt.

An unserer jüngsten geldpolitischen Lagebeurteilung im März haben wir beschlossen, unseren

Leitzins unverändert bei −0,75% zu lassen und unsere Bereitschaft, bei Bedarf am

Devisenmarkt zu intervenieren, aufrechtzuerhalten. Wir hatten aber bereits im Dezember betont, dass wir eine gewisse Aufwertung des Frankens zulassen würden. Wie ist unsere gegenwärtige Geldpolitik einzuordnen?

Wir intervenieren am Devisenmarkt, wenn starker Aufwertungsdruck auf den Franken zu anhaltend negativer Inflation führen und die Wirtschaft stark belasten würde. Aber wir reagieren nicht mechanisch auf jeden Aufwertungsdruck. Wenn Sie den Franken in den vergangenen Monaten genau verfolgt haben, wissen Sie, dass er sich nach und nach aufgewertet hat und zwischenzeitlich gegenüber dem Euro sogar unter die Parität gefallen ist.

Wir haben das ganz bewusst zugelassen. Denn die Inflation im Ausland ist deutlich höher als in der Schweiz. Als Folge davon kann unsere Wirtschaft auch einen nominal stärkeren Franken verkraften. Die höheren Preise im Ausland und der nominal stärkere Franken gleichen sich in etwa aus, so dass sich der reale Wechselkurs in den vergangenen Quartalen kaum verändert hat. Ohne die nominale Aufwertung der letzten Monate wäre unsere Geldpolitik expansiver geworden. Das wäre angesichts der aktuellen Inflationsentwicklung unangebracht gewesen. Das Zulassen der Aufwertung hat uns geholfen, die Inflation in der Schweiz vergleichsweise tief zu halten.

Weshalb haben wir nicht einfach den Leitzins angehoben? Zwei Gründe haben bisher gegen eine solche Massnahme gesprochen. Erstens ist der Inflationsdruck hierzulande moderat. Zweitens dürfte die Inflation auf absehbare Zeit wieder im Bereich der Preisstabilität zu liegen kommen. Wir sehen bisher kaum Hinweise dafür, dass der Anstieg der Rohwarenpreise breit auf die Preise anderer Waren und Dienstleistungen übergreift. Unsere Inflationsprognose zeigt entsprechend, dass die Inflation im laufenden Jahr im Durchschnitt 2,1% betragen und in den zwei folgenden Jahren wieder sinken wird. Die monetären Bedingungen sind somit für den Moment angemessen. Wenn der Inflationsdruck aber stärker und breiter werden sollte,

Um den Rest dieser Noodl zu lesen, rufen Sie bitte die Originalversion auf, und zwar hier.

Attachments

  • Original Link
  • Original Document
  • Permalink

Disclaimer

SNB - Swiss National Bank published this content on 29 April 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 29 April 2022 08:11:05 UTC.