Von Phred Dvorak und Anna Hirtenstein

NEW YORK (Dow Jones)--Der Ukraine-Krieg hat viele Länder auf der ganzen Welt dazu gebracht, sich kurzfristig wieder stärker auf fossile Brennstoffe zu stützen. Dabei haben sich viele Nationen eigentlich verpflichtet, in Zukunft schneller vom Klima-Gas CO2 wegzukommen. Jetzt sind die sich verschärfende Energiekrise, eine globale Hitzewelle, steigende Preise, Engpässe in der Versorgungskette und die Sorge vor einem wirtschaftlichen Abschwung Realität. Und all das könnte die längerfristigen Versprechen zum Übergang zu emissionsärmeren Energiequellen verzögern.

Besonders akut ist die Situation in Europa, wo die Aussicht auf eine schwere Brennstoffknappheit in diesem Winter die Aufmerksamkeit der Politiker auf die unmittelbaren Probleme lenkt, so Investoren und Wirtschaftsexperten.


   Steigende Gaspreise 

Die europäischen Großhandelspreise für Erdgas sind in der vergangenen Woche stark nach oben geschnellt, da Russland die Lieferungen über eine wichtige Pipeline in die Region gedrosselt hat. Sie haben sich in diesem Jahr mehr als verdoppelt, was Haushalte und Unternehmen belastet und die Angst vor einer weltweiten Rezession verstärkt.

Eine Hitzewelle, ein Mangel an Wasserkraft und Korrosionsprobleme in französischen Atomreaktoren verschärfen nach Ansicht von Energieexperten die Energiesituation auf dem Kontinent. Der niedrige Wasserstand des Rheins, der als eine wichtige Schifffahrtsroute in Europa dient, schürt auch die Sorge vor weiteren Unterbrechungen bei der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen.

Als Reaktion darauf suchen Regierungen und Unternehmen händeringend nach Versorgungslösungen, die nicht weniger, sondern mehr fossile Brennstoffe beinhalten. Viele schließen Verträge für Flüssigerdgas (LNG) aus den USA, dem Nahen Osten und Afrika ab. Shell gab in der Vorwoche bekannt, dass das Unternehmen ein großes Erdgasprojekt in der Nordsee in Angriff nimmt, das zuvor von den britischen Aufsichtsbehörden aus Umweltschutzgründen abgelehnt worden war.


   Hoffen auf einen Wandel zu erneuerbaren Energien 

Shell-Chef Ben van Beurden erklärte zuletzt, dass Europa anderen Ländern LNG-Lieferungen abspenstig macht, was seiner Meinung nach dazu beitragen wird, dass China und andere Länder stärker auf schmutzigere fossile Brennstoffe wie Kohle setzen.

Befürworter grüner Energien hoffen hingegen, dass der Krieg in der Ukraine und die hohen Kraftstoffpreise dazu beitragen können, den Wandel auf dem Kontinent zu beschleunigen. Das könnte funktionieren, indem sie eine schmerzhafte Abkehr von Öl und Gas erzwingen und die Verbrauchergewohnheiten ändern, die andernfalls vielleicht fest verankert geblieben wären.

"Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat die Bedeutung der Elektrifizierung und der erneuerbaren Energien noch deutlicher gemacht", argumentiert Francesco Starace, Chef des italienischen Energieversorgers Enel, der Solaranlagen und andere grüne Projekte baut.

Viele Marktbeobachter sind jedoch der Meinung, dass Europas Pläne für grüne Energie hinter den Bemühungen zurückstehen, die Auswirkungen des Ukraine-Krieges, die höhere Inflation und die Belastungen der Lieferketten zu bewältigen. Der französische Energieriese Schneider Electric berichtet, dass sich seine Projekte bei den erneuerbaren Energien in Ländern wie Spanien, den Niederlanden und den nordischen Ländern um bis zu einem Jahr verzögern. Der Grund sind vor allem Probleme in der Lieferkette und höhere Transportkosten. Die USA sehen sich mit den gleichen Problemen wie Europa konfrontiert, was die steigenden Kosten und die festgefahrenen Lieferketten für erneuerbare Energien betrifft, wodurch sich Projekte verzögern.


  EU nimmt Erdgas in Liste umweltfreundlicher Investitionen auf 

Einige europäische Bemühungen zur Sicherung der Energieversorgung nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine erfordern beträchtliche, langfristige Investitionen, die die Abhängigkeit der Region von fossilen Brennstoffen verlängern, so Kritiker. Im Juli stimmten die EU-Gesetzgeber für die Aufnahme von Erdgas in die Liste der umweltfreundlichen Investitionen der EU. Dies ist ein Schritt, der dazu beitragen könnte, die benötigte Energie zu beschaffen, der aber auch die Möglichkeit eröffnet, den Brennstoff länger zu nutzen. Die europäischen Staaten beginnen aber durchaus, Maßnahmen zur Förderung der erneuerbaren Energien zu ergreifen, und einige Investitionen folgen. So hat Deutschland im vergangenen Monat ein Gesetz über erneuerbare Energien verabschiedet, das nach Angaben des Branchenverbands Windeurope höhere Ziele für die Windenergie und Verbesserungen bei den Genehmigungen vorsieht.

Die Europäische Investitionsbank, der Kreditgeber der EU, kündigte im vergangenen Monat ein Darlehen in Höhe von 550 Millionen Euro für den spanischen Energieversorger Iberdrola an. Damit sollen in den nächsten anderthalb Jahren Wind- und Solarprojekte in Spanien finanziert werden. Die Europäische Kommission stellt 118 Millionen Euro für die Finanzierung einer Solarzellenfabrik von Enel in Süditalien bereit. Solarpower Europe, die wichtigste Solarhandelsgruppe des Kontinents, erklärte im Vormonat, dass die Installationen auf dem besten Weg seien, die rosigsten Prognosen der Gruppe für dieses Jahr zu übertreffen. Es sind jedoch viel mehr Geld und Maßnahmen erforderlich, um die Abkehr von fossilen Brennstoffen in dem Tempo voranzutreiben, das notwendig ist, um die Emissionen - und die globale Erwärmung - in Schach zu halten. Diese Schritte wären selbst ohne die


   Verbraucher sollten bei Energiepreisen nicht geschont werden 

"Man hat das Gefühl, dass Geld für den Ausbau der erneuerbaren Energien angesichts der Krise erst zu spät fließt", so Susi Dennison von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. "Aber wenn wir jetzt nicht die notwendigen Investitionen in grüne Energie tätigen, werden die kurzfristigen Maßnahmen zu langfristigen Maßnahmen." Im Mai schlug die Europäische Kommission vor, ihr bereits ehrgeiziges Ziel für erneuerbare Energien von 40 Prozent auf 45 Prozent des Strom-Mixes der EU im Jahr 2030 zu erhöhen. Dazu gehören auch Pläne, die Solarkapazität in der EU bis 2025 mehr als zu verdoppeln.

Um all dies zu erreichen, muss Europa sein derzeitiges Investitionsvolumen in erneuerbare Energien auf rund 66 Milliarden Euro pro Jahr etwa verdoppeln, so Alessandro Boschi von der Europäischen Investitionsbank. Dies wiederum erfordere von den europäischen Regierungen Maßnahmen wie die Straffung der Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und die Förderung des Marktes für Verträge über saubere Energie. Die europäischen Regierungen müssten auch Energiesparmaßnahmen vorantreiben und ihre Versuche aufgeben, Verbraucher und Unternehmen vor den höheren Energiekosten zu schützen, wie Simone Tagliapietra von der Denkfabrik Bruegel meint. Laut einer Bruegel-Studie haben die europäischen Länder zwischen September 2021 und Mai mindestens 187 Milliarden Euro für solche Subventionen bereitgestellt.

(Mitarbeit: Jenny Strasburg)

Kontakt zum Autor und zur Autorin: konjunktur.de@dowjones.com

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August 01, 2022 10:15 ET (14:15 GMT)