MÜNCHEN (dpa-AFX) - Milliardenverluste, keine Dividende: Die erste Bilanz von Börsenneuling Siemens Energy ist mager ausgefallen. Noch schleppt der jüngste Siemens-Ableger viele Altlasten mit sich herum. Diese will Konzernchef Christian Bruch in den nächsten Jahren ausmerzen. Analysten sind zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Als nächster Schritt winkt im Dezember der Aufstieg in den MDax. Was beim Unternehmen los ist, was Analysten sagen und was die Aktie macht.

DIE LAGE BEI SIEMENS ENERGY:

Für Unternehmenschef Bruch hat mit der Börsennotierung von Siemens Energy Ende September ein neues Kapitel begonnen. Mit der Selbstständigkeit des neuen Unternehmens gewinnt das Management die nötige Beinfreiheit für seine Weiterentwicklung abseits des großen Siemens-Reichs. Dabei ist Siemens Energy derzeit ein recht sperriges Konstrukt: Auf der einen Seite steht die ehemalige Siemens-Sparte Gas and Power, in der sowohl Technologien zur fossilen Energieerzeugung wie auch zur Stromübertragung gebündelt sind. Auf der anderen Seite gab Siemens seinen 67-prozentigen Anteil an dem ebenfalls börsennotierten Windanlagenbauer Siemens Gamesa mit, der in Spanien sitzt.

Mit beiden Geschäften ist Siemens in den vergangenen Jahren nicht wirklich glücklich geworden. Beim einst so ertragreichen Kraftwerksgeschäft schwand die Nachfrage insbesondere nach großen Gasturbinen drastisch, die Profitabilität schmolz dahin. Mit einem harten Sanierungsprogramm und dem Abbau tausender Stellen hielt Siemens dagegen.

Siemens Gamesa, das aus der Fusion des Siemens-Windanlagengeschäft mit dem spanischen Konkurrenten Gamesa hervorging, bekam kurz nach Gründung das Abflauen des Windanlagen-Booms in Europa sowie den nahezu vollständigen Zusammenbruch des Geschäfts mit Landanlagen (Onshore) in Deutschland zu spüren. Nachdem die Regierungen ihre Fördersysteme auf Auktionen umstellten, sah sich die Windbranche einem massiven Preisdruck ausgesetzt. Zudem kämpft Gamesa mit hausgemachten Problemen im Onshoregeschäft. Dazu beherrschten lange Zeit Animositäten zwischen den Deutschen und dem spanischen Anteilseigner Iberdrola das Bild, den Siemens schlussendlich aus dem Unternehmen herauskaufte.

Bruch steht nun vor der Aufgabe, aus den beiden verlustträchtigen, sehr unterschiedlichen Geschäften einen schlagkräftigen Konzern zu formen. Dabei steht als allererstes die Profitabilität im Vordergrund. Bruch kann nur bei Gas and Power durchregieren, einen direkten Zugriff bei Siemens Gamesa hat er nicht. Daran ändern wird sich in naher Zukunft nichts. So betonte Bruch zuletzt, dass es keine Pläne gäbe, Siemens Gamesa vollständig zu übernehmen.

Bruch konzentriert daher sein Bemühen auf die Sparte Gas and Power. Hier hat er zusätzliche Einsparungen angekündigt, Kapazitäten sollen herausgenommen werden. So will er die Struktur des Unternehmens verschlanken und Komplexität abbauen. Dazu gehört neben der Optimierung der Betriebsabläufe ein zentraler Einkauf sowie eine Verbesserung im Projektgeschäft. So will das Unternehmen defizitäre Projekte schrittweise auslaufen lassen und bei neuen Aufträgen selektiver und weniger risikoreich vorgehen. Als Kern sieht Bruch das Servicegeschäft. Dieses verspricht stabilere Renditen - und das dauerhaft. Beim Kohlegeschäft kündigte Bruch einen schrittweisen Ausstieg an - dies gilt jedoch zunächst nur für neue Projekte.

Bei Siemens Gamesa hat hingegen Konzernchef Andreas Nauen das Sagen, der im Sommer den glücklosen Markus Tacke ablöste. Er sieht den Windanlagenbauer weiter als unabhängigen Konzern. Nauen soll Gamesa, das trotz voller Auftragsbücher Verluste schreibt, wieder auf Kurs bringen. Anstelle des Volumens hat er nun der Profitabilität den Vorrang eingeräumt, insbesondere im ertragsschwächeren Onshore-Geschäft. Projektrisiken will das Management senken. Helfen sollen auch neue Technologien und eine Vereinfachung der Lieferkette.

All das soll dazu beitragen, dass Siemens Energy in den kommenden Jahren deutlich profitabler wird. Für das am 1. Oktober begonnene Geschäftsjahr sollen die Umsätze in einer recht breiten Spanne von 2 bis 12 Prozent steigen. Die bereinigte Ergebnismarge (Ebita) soll 3 bis 5 Prozent erreichen. Sowohl Gas and Power als auch Siemens Gamesa sollen dazu beitragen. Im vergangenen Geschäftsjahr 2019/20 hatten unter anderem Abschreibungen den frisch gebackenen Konzern tief in die Verlustzone gedrückt - unter dem Strich stand ein Fehlbetrag von fast 1,9 Milliarden Euro. Eine Dividende gibt es daher nicht.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Analysten begleiten Siemens Energy zum Start mit Wohlwollen. Die Mehrheit der 18 von Bloomberg erfassten Experten empfehlen die Aktie derzeit zum Kauf und sehen beim Kurs noch zum Teil deutliches Aufwärtspotenzial. Dabei haben sie vor allem die längerfristige Entwicklung im Blick. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei knapp 28 Euro - die Spanne reicht dabei von 24 Euro (NordLB) bis 31 Euro (HSBC).

Die ehemalige Siemens-Energiesparte sei in einer im Umbruch befindlichen Branche mit ihren Produkten und Dienstleistungen sowohl bei konventioneller als auch grüner Energie führend, schrieb etwa Sean McLoughlin von der britischen Investmentbank HSBC jüngst in einer Studie. Zudem verwies er auf das "Optimierungspotenzial" des Börsenneulings hin.

Goldman-Sachs-Analyst Ajay Patel notierte dabei, das Unternehmen decke die komplette Energie-Wertschöpfungskette von konventioneller zu erneuerbarer Energie ab und sei damit auf zahlreiche Megatrends wie steigende Nachfrage, Minimierung von Schadstoffausstoß und Digitalisierung ausgerichtet. Er betonte das Potenzial durch Kostensenkungen und das langfristige Wachstum im Bereich der Erneuerbaren. Auch Investitionen in den Bereich Wasserstoff, der noch in den Kinderschuhen stecke, böten erhebliche Chancen.

Auch beim Analysehaus Jefferies sieht Analyst Simon Toennessen gute Perspektiven. Investoren könnten sich auf ein ansprechendes, mehrjähriges Gewinnwachstum freuen. Unter den europäischen Industriekonzernen biete der Hersteller von Elektro- und Energietechnik das größte Potenzial, aus eigener Kraft voranzukommen. Umfangreiche Kosteneinsparungen sollten in den kommenden drei Jahren zudem die Profitabilität ankurbeln.

Toennessen räumte dabei nach der Vorlage der jüngsten Quartalszahlen ein, dass Siemens Energy etwas schwächer abgeschnitten habe als erwartet. So habe etwa der Auftragseingang in der Kraftwerkssparte Gas and Power enttäuscht.

Philip Buller von der Privatbank Berenberg bezeichnet das vergangene Geschäftsjahr als "Übergangsjahr". Insgesamt habe Siemens Energy seine Jahresziele erreicht. In der Corona-Krise sei dies ein solider Anfang. Mit Blick auf 2021 sei das Papier attraktiv und sollte vor einer Neubewertung stehen. Ebenfalls auf der Käuferseite steht die Schweizer Bank Credit Suisse. Für die Aktie sprächen die niedrige Bewertung der Gas- und Stromsparte, mittelfristig zu erwartende Margensteigerungen und das umfangreiche Kraftwerksportfolio, so Analystin Iris Zheng.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Die Aktie des seit Ende September börsennotierten Unternehmens hat sich zunächst sehr volatil gezeigt. Dies ist bei einer Abspaltung nicht ungewöhnlich. So haben Siemens-Aktionäre das Papier zusätzlich in ihr Depot gebucht bekommen. Investoren mit einem anderen Anlagefokus oder Fonds, die etwa bestimmte Indizes nachbilden, haben daher zunächst ihre Anteile verkauft. So ging es mit dem Kurs erst einmal abwärts.

So startete Siemens Energy mit einem Kurs von rund 22 Euro. Nach einem Anstieg auf mehr als 23 Euro ging es bis Ende Oktober deutlich abwärts, das Papier fiel bis auf 18,36 Euro. Seitdem geht es wieder kräftig nach oben und erreichte am Donnerstag mit 24,48 Euro den bisher höchsten Stand. Seit dem Tief Ende Oktober legte der Kurs damit um ein Drittel zu - der Börsenwert lag zuletzt bei fast 18 Milliarden Euro.

Auftrieb gab dabei auch die Aussicht auf einen Aufstieg der Aktie in den Mittelwerteindex MDax Anfang Dezember. Für eine außerordentliche Aufnahme überzeuge Siemens Energy sowohl dem Börsenwert der frei handelbaren Aktien (Streubesitz) von knapp zehn Milliarden Euro als auch dem auf zwölf Monate hochgerechneten erwarteten Börsenumsatz, schrieben etwa die Experten der Commerzbank jüngst in einer Studie.

Das Gewicht der Aktie dürfte zwischen 3,6 und 3,8 Prozent liegen, wie JPMorgan und die Commerzbank ermittelten. Damit wäre sie ein Schwergewicht und nähme unter den insgesamt 60 Werten laut der Commerzbank den fünften Rang ein. Wichtig sind Änderungen in den Indizes der Dax-Familie vor allem für Fonds, die diese Indizes real nachbilden. Dort muss dann entsprechend umgeschichtet werden.

Siemens hält nach dem Spin-off noch 35,1 Prozent der Anteile, weitere 9,9 Prozent beim Pensionsfonds der Münchener. Dabei hat Siemens bereits angekündigt, die Beteiligung weiter reduzieren zu wollen./nas/ssc/fba/zb