Von Benjamin Katz

LONDON (Dow Jones)--Im Sommer vergangenen Jahres, als die Deutsche Lufthansa wegen der Verkehrsbeschränkungen in der Pandemie noch mehr als 1,2 Millionen Dollar pro Stunde verbrannte, meldete sich Vorstandschef Carsten Spohr bei Microsoft Teams an, um seinen Amtskollegen bei Airbus zu sprechen. Ganz oben auf der Agenda von Spohr, so berichten es Personen, die mit dem Gespräch vertraut sind: Er wollte die Milliarden gestundet haben, die die Lufthansa noch für Flugzeuge zahlen musste, die sie schon Jahre vor der Pandemie bestellt hatte.

Die Antwort von Airbus-CEO Guillaume Faury war ein schlichtes Nein. Faury verbrachte die Pandemie überwiegend damit, seine größten und treuesten Kunden, von denen einige am Rande des Abgrunds standen, dazu zu zwingen, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Auch wegen dieses Glücksspiels, das den Konventionen der Branche eigentlich zuwiderlief, ist Airbus in die stärkste Wettbewerbsposition seiner Geschichte gegenüber dem Rivalen Boeing gekommen.

Die Verkaufsteams von Airbus gingen "Flugzeug für Flugzeug durch, Fluggesellschaft für Fluggesellschaft, Kunde für Kunde, um zu sehen, wie hoch der jeweilige Auftragsbestand war und wie der jeweilige Vertrag mit Airbus aussah", sagte Faury. Der einstige Testflugingenieur hatte den Spitzenjob in Toulouse ein Jahr vor Ausbruch der Covid-19-Krise übernommen. Im Fall der Lufthansa flossen letztlich 1,3 Milliarden Euro, und bis auf fünf jener 21 Jets, deren Auslieferung Spohr eigentlich schieben wollte, wurden alle übernommen, wie aus Firmenunterlagen hervorgeht.

2020 lieferte Airbus mehr als dreimal so viele Jets aus wie Boeing und konnte seinen Vorsprung ausbauen, während der US-Hersteller durch das Flugverbot für seinen Verkaufsschlager 737 Max nur eingeschränkt lieferfähig war. Aber auch 2021 hat Airbus bisher fast doppelt so viele Flugzeuge ausgeliefert wie sein Rivale. Analysten sagen, dass die jüngsten Zuwächse von Airbus so groß sind, dass aus dem Duopol der beiden großen Hersteller von Verkehrsflugzeugen eine Art Monopol werden könnte, zumindest auf einem entscheidenden Markt, dem für die Maschinen mit schmalem Rumpf, den sogenannten Single-Aisle-Jets.


   Airbus liefert inzwischen 70% der Flugzeuge im wichtigsten Segment 

Die 737 von Boeing, die jetzt wieder fliegen darf, und die A320 von Airbus sind die beiden Arbeitspferde in den Airline-Flotten weltweit. Sie werden für ihre Vielseitigkeit und ihren effizienten Treibstoffverbrauch geschätzt. Nach Angaben des Luftfahrtanalysten Agency Partners kontrolliert Airbus heute fast 70 Prozent des Marktes für Single-Aisle-Flugzeuge. Vor dem Stopp des 737-Max-Programms Ende 2018 lag die Aufteilung noch bei 50 zu 50.

"Es ist fast unmöglich" für Boeing, das wieder aufzuholen, sagte Analyst Sash Tusa von Agency Partners mit Sitz in London. "Der Grund, warum Airbus hart verhandeln kann, ist der, dass es keine Konkurrenz gibt." Boeing wollte sich zu diesem Bericht nicht äußern.

Die Nachfrage in vielen der großen Luftfahrtmärkte, darunter auch die der USA und von China, erholt sich jetzt. Faurys Strategie in der Pandemie war eine Abkehr vom üblichen Vorgehen in zurückliegenden Krisen. Airbus war unter der früheren Führung eher bereit, seinen besten Kunden notfalls Flexibilität bei Bestellungen zu gewähren. Der jetzt verfolgte Ansatz von Airbus, starr die Verträge umzusetzen, birgt große Risiken. Einige Airbus-Führungskräfte fürchten insgeheim, dass er die langfristigen Beziehungen zu den Airlines gefährdet, gerade wenn wie jetzt die Nachfrage wieder anzieht.

Willie Walsh, der Ende vergangenen Jahres ausgeschiedene CEO des British-Airways-Mutterkonzerns International Consolidated Airlines Group, bat in den ersten Tagen der Pandemie um ein Moratorium für Airbus-Lieferungen, wie mit der Angelegenheit vertraute Personen berichten. Als dies abgelehnt wurde, berief er sich wiederholt auf die "alte Airbus", so die Insider. In der Luftfahrtkrise, die die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York auslöste, war Walsh noch Chef von Aer Lingus gewesen. Seinerzeit hatte Airbus der kleinen irischen Fluggesellschaft noch deutlich mehr Spielraum bei der Abnahme von Bestellungen eingeräumt. Eine Sprecherin von IAG wollte sich zu dem Thema nicht äußern.

Airbus-Chef Faury sagte, in den meisten Fällen sei es gelungen, eine gemeinsame Basis mit jenen Kunden zu finden, die Bestellungen aufschieben oder stornieren wollten, während Airbus die Verträge eingehalten wissen wollte. Folglich sind alle Flugzeuge, die Airbus im vergangenen Jahr gebaut hat, entweder bereits verkauft und warten darauf, dass ihr Besitzer sie abholt, oder sie befinden sich in einem "extrem fortgeschrittenen Verhandlungsstadium", wie Chief Commercial Officer Christian Scherer im Juni gegenüber Reportern sagte.

Airliner-Lieferverträge gehören zu den am schwersten zu lösenden Kontrakten. Sie werden abgeschlossen, um verlässliche Lieferpläne zu gewährleisten. So bleiben die Fabriken von Airbus und Boeing in schlechten Zeiten am Laufen, und die Nachfrage lässt sich befriedigen, wenn es am Markt wieder aufwärts geht. Aber in schweren Phasen des Abschwungs erwarten Fluggesellschaften und vom Konkurs bedrohte Flugzeugleasingfirmen eine gewisse Flexibilität. Airbus hat davon zuletzt wenig gezeigt.

Im März 2020, als das gesamte Ausmaß der wirtschaftlichen Bedrohung durch das Virus weltweit erkennbar wurde, beschwerte sich Faury bei Journalisten, dass einige Fluggesellschaften nicht ans Telefon gingen, wenn Vertriebsmitarbeiter anriefen, um sie an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Später warnte er die Fluggesellschaften, dass Airbus bereit sei, rechtliche Schritte einzuleiten, wenn Kunden sich weigerten, bestellte Flugzeuge abzunehmen.


   Boeing lässt deutlich mehr Stornierungen zu als Airbus 

2020 haben Boeing-Kunden 655 Flugzeug-Bestellungen storniert und in weiteren 523 Fällen eine Abnahme als unwahrscheinlich eingestuft, wie aus den monatlichen Auftrags- und Lieferdaten von Boeing hervorgeht. Die meisten davon waren 737-Max-Jets. Fluggesellschaften und Leasinggeber konnten sich aufgrund des monatelangen Flugverbots ohne großen Streit aus den Verträgen zurückziehen.

Airbus hingegen stimmte nur 115 Stornierungen zu, die meisten davon aufgrund von Insolvenzen von Fluggesellschaften, wie internen Aufzeichnungen zu entnehmen ist. Selbst in einigen dieser Fälle zog Airbus noch vor Gericht, um eine Entschädigung zu erreichen.

Lufthansa gehört neben Air France zu den allerersten Kunden des deutsch-französischen Flugzeugbauers. Nach dem Teams-Videomeeting zwischen den beiden Konzernchefs im vergangenen Sommer verbrachten Lufthansa und Airbus fast ein Jahr damit, einen neuen, langfristigen Plan für die Auslieferung von Flugzeugen auszuarbeiten.

Die Flottenmanager von Lufthansa, so berichteten es mit den Verhandlungen vertraute Personen, mussten zermürbende Gespräche mit dem Verkaufsteam von Airbus führen. Für jede Änderung, die Lufthansa vorschlug, verlangte Airbus eine Gegenleistung, entweder die frühere Auslieferung eines anderen Modells, eine zusätzliche Bestellung, Stundungszahlungen oder ein Mix daraus.

Zusätzlich zu den 16 eigentlich unerwünschten Flugzeugauslieferungen im vergangenen Jahr ließ sich Lufthansa im April darauf ein, in diesem Jahr 12 neue Flugzeuge zu übernehmen. Dafür wurde die Auslieferung weiterer 24 Jets in spätere Jahren verschoben. Lufthansa erklärte sich bereit, für die Vertragsänderungen Vertragsstrafen zu zahlen. Außerdem wurde der Kauf von fünf weiteren A350-Großraumflugzeugen vereinbart, die im Jahr 2027 ausgeliefert werden sollen.

Kontakt zum Autor: unternehmen.de@dowjones.com

DJG/DJN/rio/mgo

(END) Dow Jones Newswires

July 14, 2021 02:34 ET (06:34 GMT)