HAMBURG (dpa-AFX) - Der Windindustrie stehen nach Einschätzung von Betriebsräten goldene Zeiten bevor - sofern die Branche den Fachkräftemangel in den Griff bekommt. So erwarten laut einer am Mittwoch vorgestellten Umfrage der IG Metall 76,9 Prozent der befragten Arbeitnehmervertreter eine positive Marktentwicklung, im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es nur 3,7 Prozent. Gleichzeitig fürchten aber fast 90 Prozent der Befragten, dass der Mangel an Fachleuten eine ernsthafte Gefahr für den Ausbau der Windkraft in Deutschland darstellt.

In Folge der Corona-Pandemie und des Russland-Krieges gegen die Ukraine berichteten zudem 77 Prozent der Befragten von Problemen in der Lieferkette. Hohe Energie- und Stahlpreise, Engpässe bei Elektronikkomponenten und blockierte Transportwege machten den Unternehmen zu schaffen, heißt es in der Befragung von Arbeitnehmervertretern aus bundesweit 28 Unternehmen mit insgesamt mehr als 25 000 Beschäftigten.

"Alle Zeichen stehen auf "Go" - und kaum etwas passiert", zitierte der Forschungsleiter der Agentur für Struktur- und Personalentwicklung (AgS), Thorsten Ludwig, einen Betriebsrat aus der Umfrage. Das betreffe sowohl den Onshore- also auch den Offshore-Bereich und die gesamte Wertschöpfungskette.

Am meisten versprechen sich die Betriebsräte im Bereich Service und Wartung positive Marktentwicklungen. Auch bei Turbinen und der Projektentwicklung seien die Erwartungen hoch. Einzig bei der Rotorblattfertigung sehe es nicht so gut aus, was aber daran liege, dass diese in Deutschland praktisch nicht mehr vorhanden sei. "Das ist im wesentlichen aufgegeben worden", sagte Ludwig. Sie befinde sich nun vor allem in Portugal, Indien und China.

Dabei sei das zunehmend ein Problem. Denn mit Blick auf die Transportwege sagte Ludwig: "Sämtliche Komponenten, die auf eine Wertschöpfungskette Einfluss nehmen, sind gestört." Entsprechend versuchen viele Betriebe der Umfrage zufolge bereits, unter anderem alternative Lieferanten zu finden oder die Lagerbestände zu erhöhen. Der Bezirksleiter der IG Metall Küste, Daniel Friedrich, sagte: "Wir müssen die gesamte Wertschöpfungskette halten." Die Schließung des letzten Rotorblattwerkes in Deutschland von Nordex in Rostock sei ein schwerer Fehler gewesen.

Trotz grundsätzlich rosiger Aussichten sind die Erwartungen der Betriebsräte bei der Beschäftigungsentwicklung zurückhaltend. Nur 30 Prozent rechnen mit einem Aufbau, zehn Prozent befürchten einen Abbau, der Rest gehe von gleichbleibenden Belegschaften aus. "Wir können leider weiter feststellen, das grüne Jobwunder lässt weiter auf sich warten", sagte Friedrich.

Dabei hätten schon jetzt fast alle Betriebe Probleme bei der Stellenbesetzung. "Mit Tarifvertrag ein bisschen weniger und ohne Tarifvertrag alle", sagte Ludwig. Friedrich betonte, den Wettbewerb um die besten Köpfe gewinne man aber nicht mit Obstkörben und Kickertischen, sondern mit guten Arbeitsbedingungen. "Wer sich - wie aktuell der Windanlagenhersteller Vestas - Tarifverhandlungen verweigert, muss sich über die negativen Auswirkungen bei der Suche nach Fachkräften nicht wundern", sagte Friedrich.

Er sei auch fassungslos, wie Firmen über Fachkräftemangel klagten, gleichzeitig aber ihrer eigenen Verantwortung nicht gerecht würden, junge Menschen auszubilden und so neue Fachkräfte heranzuziehen. Laut Ludwig liegt die Ausbildungsquote in der Windindustrie bei historisch niedrigen 3,4 Prozent - nach 4,4 Prozent 2019. Auffällig sei, dass die Quote in tarifgebundenen Unternehmen noch bei 4,5 Prozent liege, bei Firmen ohne Tarifvertrag dagegen bei nur 1,7 Prozent. "Das ist deutlich zu wenig", sagte Ludwig.

Der Präsident des Bundesverband WindEnergie (BWE), Hermann Albers, betonte: "Damit die positive Stimmung zu einem realen Produktions- und Beschäftigungsplus führt, müssen die 10 000 MW fertig entwickelte Projekte, für die bereits das Genehmigungsverfahren läuft, noch in diesem Jahr entschieden werden." Dies sei dringend erforderlich, um die ersten Ausschreibungsrunden des kommenden Jahres zu füllen und den Zubau wieder dynamisch anspringen zu lassen. "Hier stehen die Bundesländer in der Verantwortung, jetzt eine Jahresendrally zu starten", sagte Albers./klm/DP/nas