WOLFSBURG/BERLIN (dpa-AFX) - Gut 65 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit Italien hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Lebensleistung der Gastarbeiter in Deutschland gewürdigt. "Die Menschen, die damals zugewandert sind, waren und sind für unsere Gesellschaft ein großes Geschenk", sagte der SPD-Politiker am Montag bei einer Jubiläumsveranstaltung mit Zeitzeugen, die zu Beginn der 60er Jahre bei Volkswagen in Wolfsburg anfingen. Ohne die Helfer aus dem Süden hätte die Industrie in den Wirtschaftswunderjahren kaum so aufblühen können, erklärte Heil. "Sie waren aber auch eine kulturelle Bereicherung." In Unternehmen, Gastronomie, Handwerk, Kunst und Politik gebe es heute zahllose Beispiele für gelungene Integration.

Mit der Unterzeichnung der "Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland" am 20. Dezember 1955 wurden die Weichen zur Einstellung vieler Tausend Gastarbeiter in Deutschland gestellt. Viele von ihnen entschlossen sich trotz schwieriger erster Jahre, im Land zu bleiben.

Im Winter 1962 kamen in Wolfsburg die ersten 84 Italiener bei VW an, wie die Stadträtin für Jugend, Bildung und Integration, Iris Bothe, berichtete. Der Konzern hatte in italienischen Zeitungen Anzeigen geschaltet. Allein im ersten Jahr folgten bereits rund 5000 weitere Menschen. Meist waren es Männer, die ihre Familien verlassen mussten - für Frauen war die Arbeitssuche zunächst deutlich schwieriger.

Die beiden ehemaligen VW-Mitarbeiter und -Betriebsräte Rocco Artale und Lorenzo Annese erzählten von ihren Erfahrungen. Artale, der Ehrenbürger von Wolfsburg ist, sagte, er empfinde heute großes Glück - ungeachtet der damaligen Skepsis gegenüber den Neuankömmlingen und der harten Wohnbedingungen in den Baracken des "Italien-Dorfs" neben dem Werk: "Unsere Kinder sind hier geboren. Dafür hat sich diese Geschichte doch gelohnt." Annese, der vor dem Wechsel zu Volkswagen erst in der Land- und in der Bauwirtschaft arbeitete, meinte, unterm Strich habe er "sehr gute Erfahrungen mit den Deutschen gemacht".

Heil bat dennoch im Namen der Bundesregierung um Verzeihung: "Man hat zunächst nur Arbeitskräfte gesehen, nicht Menschen mit ihren Bedürfnissen. (...) Die sogenannten Gastarbeiter haben unserem Land sehr gut getan." Dass Deutschland angeblich kein Einwanderungsland sei, halte er für eine "Lebenslüge" der früheren Bundesrepublik. Auch jetzt zeige der Fachkräftemangel etwa in der Pflege, dass weitere "gezielte Zuwanderung aus Drittstaaten" gebraucht werde. Das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz sei ein wichtiges Instrument hierfür.

Artale bat Heil, im Bund für mehr Engagement in der Flüchtlingshilfe zu werben. "Wir brauchen einen Korridor", sagte er mit Blick auf die gefährlichen Routen über das Mittelmeer. "Die Menschen müssen gesund über das Land kommen, nicht durch ein Todesmeer." Annese forderte, die Politik solle Migranten rascher in Arbeit bringen - es müsse mehr Förderung geben, zur Integration gehörten stets zwei Seiten: "Menschen müssen ihr Brot verdienen und anständig bezahlt werden."/jap/DP/stw