München (Reuters) - Vor dem Prozess um Schadenersatzforderungen Zehntausender Wirecard-Anleger kocht ein Streit über das Vorgehen der Justiz und der Wirtschaftsprüfungsfirma Ernst & Young (EY) hoch.

Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) warf am Dienstag dem Gericht vor, das Verfahren zu verzögern, und beschuldigte EY, dies auszunutzen, um sich möglichen Ansprüchen zu entziehen. Die SdK sieht EY als wichtigsten Verklagten an, weil dieses Unternehmen im Falle einer Verurteilung am ehesten zahlen könne. Das Bayerische Oberste Landesgericht, das am Freitag in München mit der Verhandlung beginnt, und EY wiesen die Vorwürfe zurück.

SdK-Vorstandsmitglied und Rechtsanwalt Marc Liebscher kritisierte, dass seit der Pleite des Zahlungsdienstleisters Wirecard und ersten Klagen mehr als vier Jahre verstrichen sind. Das liege auch an einer "sehr wurstigen Art des Bayerischen Obersten Landesgerichts, dieses Verfahren voranzubringen". In dem Massenverfahren vernachlässige das Gericht Pflichten wie Koordinierung, Moderierung und Verfahrensbegleitung.

In dem Prozess nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) bündelt das Gericht nach eigenen Angaben Kernfragen von rund 8500 Einzelprozessen und von Ansprüchen 19.000 weiterer Anleger. Es beziffert die dokumentierten Schadenersatzforderungen auf 750 Millionen Euro. Liebscher sagte dagegen, nach seinen Informationen gehe es um rund 50.000 Geschädigte und eine Schadenssumme von acht Milliarden Euro. Es handle sich um "das größte Zivilverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik".

Von Anlegern verklagt werden unter anderem der frühere Wirecard-Chef Markus Braun, die Insolvenzverwalter der Unternehmensreste sowie EY, deren Prüfer die mutmaßlich falschen Wirecard-Bilanzen abgesegnet hatten. Sie alle weisen die Forderungen zurück. "EY hat wesentlich mehr Haftungsmasse als Markus Braun", sagte Liebscher. Jedoch habe EY gewinnbringende Firmenteile mittlerweile aus der verklagten EY-Gesellschaft ausgegliedert, "um sich selbst arm zu machen."

EY erklärte, man habe im Februar mit der rechtlichen Trennung der Geschäftsbereiche Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Unternehmensberatung seine Struktur in Deutschland an die des internationalen EY-Netzwerks angepasst. "Die vorgenommenen gesellschaftsrechtlichen Veränderungen haben keinerlei Auswirkungen auf die Haftungsrisiken für bestehende und abgeschlossene Mandate oder auf laufende Zivilverfahren", erklärte das Unternehmen.

Ein Gerichtssprecher verwies "auf den exorbitanten Umfang und die außerordentliche Komplexität des vorliegenden Verfahrens", das von den fünf Richtern des zuständigen Senats bearbeitet werde. Schon deswegen sei der Vorwurf nicht nachvollziehbar. Die Schriftsätze aller Beteiligten müssten einzeln geprüft werden. Gemäß den gesetzlichen Vorschriften hätten Kläger und Beklagte wiederholt Zeit für Stellungnahmen gehabt. Dabei seien Tausende Dokumentenseiten ausgetauscht worden.

(Bericht von Jörn Poltz, redigiert von Ralf Banser. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)