Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones)--Die Opposition hat als Fazit aus der Arbeit des Wirecard-Untersuchungsausschusses im Bundestag ein "kollektives Aufsichtsversagen" festgestellt. Die politische Verantwortung liege vor allem bei Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), sagten Vertreter von FDP, Linker und Grünen bei der Vorstellung eines Sondervotums der drei Fraktionen. Es soll gemeinsam mit dem von den Koalitionsfraktionen geplanten Abschlussbericht am 25. Juni, dem letzten Tag vor der parlamentarischen Sommerpause, im Bundestagsplenum diskutiert werden.

Nach einem Jahr, über 100 Zeugenvernehmungen und dem Studium von 385.973 Blättern und 411,65 Gigabyte an Aktenmaterial sei klar: "Der Wirecard-Skandal ist viel mehr als ein Bilanzskandal", heißt es in der jüngsten Fassung des noch nicht offiziell beim Bundestag eingereichten Berichtes, in die Dow Jones Newswires Einblick hatte. "Es geht um den größten Börsen- und Finanzskandal der Nachkriegszeit, der durch kollektives Aufsichtsversagen, deutsche Wagenburgmentalität gegenüber Nicht-Deutschen sowie ein politisches Netzwerk und die Sehnsucht nach einem digitalen nationalen Champion und dessen Markteintritt in China ermöglicht wurde."

In dem 675 Seiten starken Bericht heißt es zudem: "Olaf Scholz trägt als Finanzminister die politische Verantwortung für das Versagen der Bafin." Über Jahre hinweg sei sie vor allem "durch Strategien zur Arbeitsvermeidung" aufgefallen: "Statt nach Möglichkeiten zu suchen, um aufsichtsrechtlich tätig zu werden, suchte man nach Gründen, um nicht tätig zu werden."


   Erkenntnisse sollen in Sammelklagen einfließen können 

Aufgabe des Untersuchungsausschuss sei zwar nicht die strafrechtliche Aufarbeitung des Skandals gewesen. "Wir konnten aber mit unserer öffentlichen Tatortbegehung den Opfer-Mythos des Ex-Wirecard-CEO Markus Braun erschüttern." Die im Untersuchungsausschuss gewonnenen Erkenntnisse über die kollektiven Versäumnisse von Aufsichtsrat, Abschlussprüfern, Aufsichts- sowie Ermittlungsbehörden könnten "nun in die Sammelklagen von Kleinanlegerinnen und Kleinanlegern einfließen", heißt es in dem Bericht.

"Es ist gar kein Frage, dass es hier ein kollektives Aufsichtsversagen gab", sagte Linke-Obmann Fabio De Masi bei einer Videopressekonferenz. "Da haben alle Warnzeichen versagt." Es gehe nicht nur um die Versäumnisse bei der Finanzaufsicht Bafin. "Neben diesem Aufsichtsversagen gibt es auch eine politische Verantwortung", sagte er. "Die politische Verantwortung liegt überwiegend natürlich bei Herrn Scholz", erklärte FDP-Obmann Florian Toncar. Das Haus von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) habe die Rechts- und Fachaufsicht über die Bafin und über die Antigeldwäschestelle FIU.

"Meine Quintessenz dieser Untersuchungsarbeit seit Oktober ist: Der Wirecard-Skandal war kein Naturereignis, sondern er war verhinderbar", erklärte Toncar. Es wäre "geradezu zwingend" gewesen, dass die Behörden früher hätten einschreiten müssen. Stattdessen hätten sie Fehlentscheidungen getroffen wie ein Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien. "Sie waren sehr präsent im Fall Wirecard - aber leider auf der falschen Seite." Das unterscheide dieses "Behördenversagen" fundamental von anderen Fällen. Auch Grünen-Finanzexpertin Lisa Paus betonte, natürlich gebe es eine politische Verantwortung: "Es war milliardenschweres Behördenversagen."

Der Untersuchungsausschuss sollte die Rolle von Politik und Aufsichtsbehörden in dem Skandal untersuchen. Scholz hatte bei seiner Anhörung in dem Ausschuss Ende April den gegen ihn gerichteten Vorwurf eigener Verantwortung aber zurückgewiesen. "Die Verantwortung für diesen groß angelegten kriminellen Betrug trägt nicht die Bundesregierung", hatte er erklärt. Bei dem damaligen DAX-Unternehmen Wirecard waren im Juni 2020 Luftbuchungen von fast 2 Milliarden Euro öffentlich geworden, es befindet sich mittlerweile in einem Insolvenzverfahren. Braun sitzt inzwischen in Haft, Ex-Vorstandsmitglied Jan Marsalek ist flüchtig.

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June 07, 2021 08:19 ET (12:19 GMT)