ASCHHEIM (dpa-AFX) - Derzeit werden in Aschheim bei München nach einer jahrelangen Party in der High Society die Scherben zusammen gekehrt. Der dort ansässige Zahlungsdienstleister Wirecard wurde zum Börsenstar mit internationaler Resonanz, stieg in die erste deutsche Börsenliga auf. Er galt als deutsche Antwort auf die wachstumsträchtigen Technologieunternehmen, die sonst meist in den USA angesiedelt sind. Doch dann kam der Bilanzskandal, die Insolvenz und nun die Erkenntnis: In der Substanz ist nicht viel zu holen. Die Papiere gehören jetzt zur Kategorie "Pennystock". Was bei dem Unternehmen los ist, was die Analysten sagen und was die Aktie macht.

DAS IST LOS BEI WIRECARD:

Umstritten war das Geschäftsgebaren von Wirecard schon seit Jahren. So richtig begann das Desaster aber erst Anfang 2019 mit Vorwürfen der "Financial Times" - und mündete in einen Bilanzskandal mit Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro, wie sich im Juni dieses Jahres herausstellte. Binnen weniger Tage brach das Kartenhaus in sich zusammen, der Konzern musste Insolvenz anmelden. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass seit 2015 Scheingewinne ausgewiesen wurden. Ex-Vorstandschef Markus Braun sitzt in Untersuchungshaft, nach dem flüchtigen Ex-Vorstand Jan Marsalek fahndet das Bundeskriminalamt. Marsalek war für das operative Geschäft zuständig gewesen.

Zwei Monate nach dem Insolvenzantrag hat das Amtsgericht München das Verfahren eröffnet. Für den Insolvenzverwalter Michael Jaffé wird die Verwertung der Unternehmensteile zu einer Mammutaufgabe. Die Rahmenbedingungen, wie er jüngst betonte, seien "ausgesprochen schwierig". Das operative Geschäft wird vollständig in einer Vielzahl von Tochtergesellschaften in aller Welt abgewickelt. Eine sehr komplizierte Unternehmensstruktur ist längst bekannt, vielleicht hat dies auch den Aufsichts- und Kontrollinstanzen ihre Arbeit erschwert. Auch diese müssen im Fall Wirecard starke Kritik einstecken.

Jaffé hat nun also das Zepter in der Hand, um für Gläubiger, Investoren und Mitarbeiter noch etwas zu retten. Für letztere gibt es tiefe Einschnitte. Viele Beschäftigte wurden jüngst per Mail über ihre Freistellung informiert. 730 von ihnen sollen vor die Tür gesetzt werden, in etwa die Hälfte der Stellen wird damit wegfallen.

Aber auch für die Gläubiger und Investoren gibt es offenbar wenig Hoffnung. Laut dem "Handelsblatt" zeichnet der Insolvenzbericht von Jaffé, der der Zeitung vorliegt, ein erschreckendes Bild. Frei verfügbare Finanzmittel soll es demnach kaum welche geben, die Liquiditätslücke liege laut dem Bericht bei 99 Prozent. 3,2 Milliarden Euro sollen die Verbindlichkeiten schwer sein, die Vermögenswerte sollen laut der Zeitung aber nur mit 428 Millionen Euro angesetzt worden sein.

Immerhin kommt aber die Zerschlagung schrittweise voran. Für die brasilianische Tochter wurde bereits ein Käufer gefunden und bei jener in Nordamerika gilt die Veräußerung als weit fortgeschritten. Für Teile der britischen Wirecard Card Solutions wurde eine Grundsatzvereinbarung mit der Londoner Railsbank erzielt. Für das Kerngeschäft heißt es zumindest, dass es namhafte Interessenten gibt. Für die Wirecard Bank, die selbst nicht von der Insolvenz betroffen ist, sollen ebenfalls erste Angebote vorliegen.

DAS SAGEN DIE ANALYSTEN:

Der Fall Wirecard ist für die Analystengemeinde eine große Blamage. Zu lange haben auch sie an das Erfolgsmodell geglaubt, den Beteuerungen des Managements und den Testaten des Wirtschaftsprüfers EY vertraut. So hatte das durchschnittliche Kursziel Mitte Juni - also wenige Tage vor dem Auffliegen des Milliardenlochs in der Bilanz - der damals 25 von Bloomberg erfassten Experten noch bei 155 Euro gelegen.

Die Spanne reichte dabei von 80 Euro bis immerhin 270 Euro - wert war die Aktie damals noch etwas mehr als 100 Euro. Zehn Analysten hatten die Aktie Mitte Juni noch zum Kauf empfohlen, 13 zum Halten und nur zwei zum Verkauf. Anfang des Jahres, als zumindest die Vorwürfe schon im Raum gestanden hatten, sah das Bild noch deutlicher aus. Das durchschnittliche Kursziel lag bei 190 Euro und 21 der damals 29 erfassten Analysten gaben eine Kaufempfehlung ab.

Inzwischen ist das Papier für die Aktienexperten ein rotes Tuch. Die meisten Analysten haben die Beobachtung der Aktie mittlerweile eingestellt, darunter die Analysten der Baader Bank, der NordLB und von Warburg Research. Wolfgang Donie von der NordLB, der die Aktie bereits im April auf Halten abgestuft hatte, riet den Anlegern zum Schluss "weiterhin dringend von spekulativen Investments bei Wirecard ab."

Schon vor dem düsteren Bild, dass der Insolvenzbericht abzugeben scheint, machte Donie den Anlegern nur wenig Hoffnung, dass sie im Rahmen der Insolvenzabwicklung etwas von der erzielten Masse abbekommen werden. "Auch wenn die Zerschlagung vielleicht einige Arbeitsplätze retten kann, die Aktionäre dürften mit überwiegender Wahrscheinlichkeit leer ausgehen", betonte der Experte. Er hält es für wahrscheinlich, dass selbst die Gläubiger auf großen Teilen ihrer Forderungen sitzen bleiben werden.

Kursziele nennt kaum noch ein Experte. Seit der Zuspitzung der Situation Mitte Juni gibt es im dpa-AFX Analyser lediglich zwei neuere Zielmarken mit maximal einem Euro. Der NordLB-Experte Donie ging in seiner Abschlussstudie noch einen Schritt weiter und senkte das Kursziel von einem Euro auf nur noch zehn Cent. Auch damit untermauerte er seine Einschätzung, dass die Aktie nichts mehr für Anleger ist. "Pennystocks" sind im Allgemeinen wegen einer höheren Schwankungsbreite eher bei Zockern beliebt.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Der Status als "Pennystock", also einer Aktie mit einem Wert von unter einem Euro, ist für Wirecard Realität geworden. Sie spielen damit in einer Liga mit berüchtigten Namen wie etwa Steinhoff. Dem Möbelkonzern waren 2017 ebenfalls Unregelmäßigkeiten in der Bilanz zum Verhängnis geworden - das Papier stürzte ab und kostet derzeit nur noch knapp fünf Cent das Stück, nachdem es Mitte 2016 noch mehr als sechs Euro gekostet hatte.

Der erste Kursrutsch bei Wirecard hatte vor etwa zwei Jahren begonnen, nachdem sie bei fast 200 Euro ihren Rekord aufgestellt hatten. Vom späteren Einbruch bis deutlich unter 100 Euro, als Anfang 2019 die Vorwürfe lauter wurden, konnten sie sich über Monate nicht mehr eindeutig erholen. Der große Knall kam dann Mitte Juni, als Wirecard die Luftbuchungen eingestehen und in die Insolvenz gehen musste: Davor noch zu etwa 100 Euro gehandelt, setzte der freie Fall ein.

Die Kapriolen bei einem deutschen Unternehmen waren auch den Dax-Entscheidern so unangenehm, dass die Voraussetzungen für die Indexmitgliedschaft fix geändert wurden, um die plötzlich unbeliebte Aktie aus dem Rampenlicht des deutschen Leitindex nehmen zu können. Gemäß den neuen Bestimmungen sollen insolvente Unternehmen nun mit einer Frist von zwei Handelstagen in den Dax-Indizes ersetzt werden. Der Platz von Wirecard ging an den Essenslieferdienst Delivery Hero./tih/ajx/la/zb