BEIRUT/TEL AVIV (dpa-AFX) - Das Urteil fällt rasch. "Das war nicht nur eine Bedrohung, sondern de facto ein Angriff der Zionisten (Israel) auf die iranische Maschine", sagt ein Reporter des iranischen Staatsfernsehens IRIB. Er war an Bord von Flug 1152 der iranischen Mahan Air nach Beirut, die am Donnerstagabend über Syrien von zwei Kampfflugzeugen bedroht worden sein soll. Die Passagiermaschine muss IRIB zufolge abrupt in den Sinkflug gehen, mehrere Insassen werden verletzt. Wenig später teilt das US-Militär mit, eine amerikanische F-15 habe sich dem Flugzeug genähert, um es zu identifizieren.

Der Vorfall scheint wie ein Rückfall in alte Zeiten: Unmittelbar nach einem sicherheitsrelevanten Ereignis wird von iranischer Seite der Erzfeind Israel verantwortlich gemacht. Dabei wurde gerade dies zuletzt noch vermieden - nach der mysteriösen Brand- und Explosionsserie im Juni und Juli. Mal brennt es da zum Beispiel in der Atomanlage in Natans, mal fackeln sieben Schiffe ab, ein anderes Mal explodiert eine Pipeline. Die Ursachen sind meist unklar. Auch ob die Vorfälle miteinander zusammenhängen, ist ungewiss. Dies bietet Raum für Spekulationen, etwa über Israel als möglichen Urheber.

Israel hat eine Beteiligung daran weder bestätigt noch dementiert. "Nicht jeder Vorfall im Iran steht notwendigerweise mit uns in Verbindung", sagt Verteidigungsminister Benny Gantz Anfang Juli zu Mutmaßungen, Israel könnte hinter dem Brand in Natans stecken. Außenminister Gabi Aschkenasi sagt nahezu zeitgleich: "Wir ergreifen Maßnahmen, über die man besser nicht sprechen sollte."

Der Iran-Experte Raz Zimmt rät, nicht alle Vorfälle gleichrangig zu betrachten. Einige könnten Sabotage gewesen sein, die meisten sind nach seiner Ansicht aber eher auf Pannen und Unfälle zurückzuführen.

Für den Wissenschaftler vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) an der Universität von Tel Aviv ragt der Brand in Natans aber heraus. "Dieser steht wahrscheinlich in Verbindung mit einem ausländischen Geheimdienst, sei es ein israelischer, ein amerikanischer oder irgendein anderer." Der Brand sei definitiv absichtlich herbeigeführt worden.

Das zerstörte Gebäude, in dem Hightech-Zentrifugen zur Urananreicherung hergestellt wurden, ist ein wichtiger Teil des Atomprogramms des Irans, das Israel als existenzielle Bedrohung ansieht. Auch die USA halten es für gefährlich. Daher wird gemutmaßt, es könne in Natans einen Cyberangriff gegeben haben wie 2010, als Israel und die USA mit dem Schadprogramm Stuxnet dort annähernd 1000 Zentrifugen zerstört haben sollen. Die Spekulationen reichen aber auch von einem Angriff mit Raketen, die von Radaranlagen nicht erfasst werden können, bis hin zu von Menschen platzierten Bomben.

Experten im Iran wissen noch immer nichts Genaues über die Explosion. Außer den Mitarbeitern der iranischen Atomorganisation habe niemand Zugang zu dem Ort, "daher kann man da nur spekulieren", sagt ein Politologe in Teheran. Einen ausländischen Angriff hält er für unwahrscheinlich, einen Sabotageakt auch, sonst hätte der Iran schon reagiert. Realistischer seien ein Cyberangriff oder eine Panne.

Für Raz Zimmt aus Tel Aviv ist es "sehr naheliegend, Israel als möglichen Verdächtigen zu betrachten". Israel sei vielleicht am stärksten wegen nuklearer Fortschritte des Irans besorgt, insbesondere seit dieser vor einem Jahr begonnen habe, sich von seinen Verpflichtungen aus dem Atomabkommen loszusagen. Der Iran sei derzeit wahrscheinlich nur noch drei oder vier Monate davon entfernt, genügend spaltbares Material für eine Atombombe zu produzieren.

Vor fünf Jahren hatten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China, Russland und die USA nach langen Verhandlungen mit dem Iran ein Abkommen geschlossen. Es gesteht dem Iran ein ziviles Atomprogramm zu, soll aber sicherstellen, dass die Islamische Republik nicht die Fähigkeiten zum Bau einer Atombombe erlangt. Israel ist ein entschiedener Gegner des Abkommens. Es befürchtet etwa, dass Iran heimlich weiter an Atomwaffen arbeitet. US-Präsident Donald Trump sieht dies ähnlich. Er kündigt das Abkommen im Mai 2018 einseitig auf und verhängt neue Sanktionen gegen den Iran. Daraufhin hat auch Teheran schrittweise fast alle Bestimmungen ignoriert.

Aus Sicht von Zimmt ist die Hauptfrage nun, ob der Iran für den Vorfall in Natans Vergeltung üben wird. Doch obwohl Israel seit über 40 Jahren die Hauptrolle in allen iranischen Verschwörungstheorien spielt, ist in dem Land von einer israelischen Verwicklung bislang keine Rede. Das Außenministerium hat lediglich eine "angemessene" Reaktion angekündigt, sollte hinter dem Vorfall ausländische Sabotage stecken. Eindeutige Schuldzuweisungen werden vermieden. Würde die Regierung in Teheran dies tun, sähe sie sich möglicherweise zu einer Reaktion gezwungen, sagt Iran-Experte Zimmt.

Nach der Tötung des iranischen Top-Generals Ghassem Soleimani durch eine US-Drohne im Irak und wegen der Sanktionen, die die Wirtschaft des Landes abwürgen, wurden Rufe nach Gegenmaßnahmen im Iran lauter. Durch die mysteriösen Vorfälle könnte der Druck gestiegen sein.

Doch Zimmt rechnet in naher Zukunft nicht mit einer großen Aktion und verweist auf die US-Wahl in vier Monaten. Der Demokrat Joe Biden hat gute Chancen, sich da gegen den Republikaner Trump durchzusetzen. Biden war Vizepräsident, als das Atomabkommen mit dem Iran geschlossen wurde. Im Oktober soll zudem im UN-Sicherheitsrat über das Ende des Waffenembargos gegen den Iran entschieden werden. Eine falsche Aktion "könnte zu zwei Eigentoren führen (...): Fortsetzung das Waffenembargos und Wiederwahl von Trump", erklärt der Politologe aus Teheran.

Was bliebe dem Iran dann? Nach Ansicht von Experten muss sich Israel etwa auf weitere Cyberattacken einstellen. Die Wasserversorgung des Landes war in den vergangenen Wochen bereits zweimal Ziel. Einen Angriff im Mai soll Israel mit einer Hacker-Attacke auf einen iranischen Hafen gekontert haben - der Auftakt der mysteriösen Vorfälle im Iran?/seb/DP/eas