Von Herbert Rude

FRANKFURT (Dow Jones)--An der Jahreswende 2022/2023 spricht das Umfeld auf den ersten Blick keinesfalls für Risikoanlagen. Vor den Grenzen der Europäischen Union tobt ein Krieg, wie ihn wohl vor einem Jahr fast niemand für möglich gehalten hätte. Zudem ist ziemlich genau 100 Jahre nach 1923 "das Trauma der Deutschen" zurückgekehrt, auch wenn die Inflation bisher noch keine Anzeichen der damaligen Hyperinflation mit der massenhaften Verarmung der Mittelschicht zeigt.

Zur Jahreswende 1922/1923 mussten für einen Dollar 7.260 Mark bezahlt werden, ein Jahr zuvor waren es "nur" 186 Mark gewesen, im November 1923 waren es dann 4,2 Billionen Mark. Dort stabilisierte sich der Kurs: Die neue deutsche Rentenbank strich auf den Geldscheinen 12 Nullen und die Reichsregierung senkte die Staatsausgaben drastisch, unter anderem über einen starken Personalabbau sowie Einkommenskürzungen im Öffentlichen Dienst. Im Anschluss führte eine deutliche Verbesserung der internationalen Beziehungen zu starken ausländischen Kapitalzuflüssen nach Deutschland, das nun ebenfalls von den "Roaring Twenties" erfasst wurde.

Knapp 100 Jahre später ist weder eine Kürzung der Staatsausgaben in Sicht noch eine Verbesserung der internationalen Beziehungen. Und trotzdem gibt der zweite Blick Anlass zur Hoffnung: Genährt wird sie zunächst davon, dass die Inflation über Basiseffekte zurückkommt. Die Öl- und Gaspreise liegen aktuell deutlich unter dem Niveau vom Februar und März, so dass von dieser Seite positive Impulse zu erwarten sind. Daneben hat die Bundesregierung mit der Möglichkeit der steuer- und abgabenfreien Einkommenszuschläge von 3.000 Euro die Gefahr einer Lohn-Preisspirale verringert. Und das Ende der coronabedingten Abschottungen schürt die Hoffnung, dass sich das Angebot mit der Auflösung der Lieferkettenprobleme erhöht und daher die Preise unter Druck geraten.

Sollte die Inflation so wieder nachlassen, dürften die Notenbanken ihre Zinserhöhungen beenden. Dann werden die Märkte durch die kommende, aller Voraussicht nach milde Rezession hindurch auf den nächsten Aufschwung schauen. Auch wenn eine Wiederholung der "Roaring Twenties" nicht in Sicht scheint, sollten in diesem durchaus realistischen Szenario die Kurse an den Aktienmärkten steigen.

Hinzu kommt, dass der DAX niedrig bewertet ist. Vorausgesetzt, das Szenario einer milden Rezession trifft ein, dürften die akkumulierten und umgerechneten Gewinnschätzungen im kommenden Jahr stabil bei umgerechnet etwa 1.250 DAX-Punkten bleiben. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von etwa 12 bleibt der deutsche Aktienmarkt damit im internationalen Vergleich attraktiv. In den USA liegt das KGV deutlich höher bei über 15.

Und die Dividendenrendite von über 3 Prozent im DAX liegt immer noch weit über der Rendite der Bundesanleihen, was ebenfalls klar für Aktien spricht. Besonders hohe Dividendenrenditen zeichnen unter anderem die deutschen Auto- und Versicherungstitel sowie BASF aus.

Dazu kommt Rückenwind für die Unternehmen vom immer noch hohen Dollar. Erholungsansätze im Euro wiederum machen den DAX für ausländische Investoren aus dem Dollar-Raum attraktiv, wegen möglicher zusätzlicher Währungsgewinne.


Ukraine-Krieg bleibt größtes Risiko 

Allerdings sind die Lieferkettenprobleme nicht nur Corona geschuldet, sondern zum Teil auch dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Hier ist eine nachhaltige Entspannung nur bei einer nachhaltigen Lösung des Konflikts in Sicht. Ohne eine solche würde ein Waffenstillstand voraussichtlich nur den nächsten Waffengang vorbereiten. Eine nachhaltige Lösung dürfte die Aktienkurse dagegen deutlich anfeuern. Demgegenüber ist und bleibt das größte Risiko für die Märkte eine Eskalation des Kriegs in der Ukraine. Allein stark steigende Nahrungsmittelpreise als Folge einer Eskalation kämen einer globalen Katastrophe gleich und würden zugleich die Inflationsszenarien wieder deutlich eintrüben.

Auch im Inland gibt es Unsicherheitsfaktoren, wie die Landtagswahlen in Bremen, Hessen, Bayern und zunächst in Berlin. Je nach Ausgang könnte das Klima in der Koalition deutlich rauher werden. Politische Unsicherheit könnte dann die Folge sein, und Unsicherheit ist das, was die Märkte gar nicht mögen, vor allem in Zeiten, die ohnehin schwierig sind.


  Aus technischer Sicht steht zunächst die 15.000er Marke im Blick 

Die Statistik wiederum spricht klar für steigende Kurse: Das kommende Jahr ist im US-Präsidentschaftszyklus ein Vorwahljahr, und in einem solchen geht es fast immer deutlich nach oben. Aus charttechnischer Sicht steht im DAX zunächst der Bereich um 15.000 Punkte im Blick. Sollte der DAX ihn überwinden, würde er in die Handelszone des zweiten Halbjahrs 2021 zwischen knapp 15.000 und gut 16.000 Punkten zurückkehren. Ob er über 16.200 steigt und damit eine neue Haussephase beginnt, steht aber auch dann in den Sternen. Vermutlich wird der Sprung auf neue Allzeithochs nur bei einer geldpolitischen Wende gelingen, also in einem neuen Zinssenkungszyklus. Und dafür könnte es im kommenden Jahr noch zu früh sein, wie die Geldmarkt-Futures nahelegen.

Die Banken glauben jedenfalls zunächst nicht an neue Allzeithochs. DZ Bank, Deutsche Bank, Societe Generale, Commerzbank und Metzler erwarten den DAX Ende 2023 alle an oder in der Nähe der 15.000er Marke. Etwa die Hälfte davon würde nach dem Stand kurz vor Weihnachten bereits durch die Dividenden abgedeckt". Die Erwartungen sind also recht gedämpft, doch das muss nicht schlecht sein, von schädlicher Gier oder gar Euphorie kann jedenfalls keine Rede sein.

Schlecht für den DAX ist dagegen, dass Linde voraussichtlich im März den Leitindex verlässt zu Gunsten einer Notierung an der Wall Street. Damit kehrt der größte deutsche Titel dem deutschen Markt den Rücken zu, weil das Unternehmen für seine Aktie am US-Markt bessere Perspektiven sieht. Spannend wird sein, ob die Deutsche Börse ihre Regeln für den DAX darauf ändert. Einerseits muss sie verhindern, dass das Beispiel Linde Schule macht, andererseits braucht sie gute Nachrücker, und die aktuellen Regeln versperren neben Aktien wie Lufthansa und Delivery Hero möglicherweise auch Commerzbank eine Rückkehr in den deutschen Leitindex.

Zunächst dürfte der Markt noch relativ defensiv in das neue Jahr starten. Bevorzugen dürften die Anleger defensive Aktien wie die Pharmawerte. Bei einer milden Rezession und nachlassender Inflation dürften dann relativ schnell sogenannte Value-Werte in den Blick geraten, unter anderem die ausgebremsten Titel der Chemieindustrie oder der Autobranche. In weitere Höhen vorstoßen dürfte die Aktie der Lufthansa. Gespannt kann man sein, ob die stark gefallenen Aktien der Fresenius-Familie die Wende schaffen und für eine Überraschung gut sind. Ähnliches gilt für Bayer. Als Anlageklasse interessant sind in diesem Szenario zudem Unternehmensanleihen.

DJG/hru/gos

(END) Dow Jones Newswires

December 23, 2022 05:14 ET (10:14 GMT)